Bungalow Blues

Andreas Gläser ist Autor und Arbeiter. Hier erzählt er von seinem Berliner Alltag

  • Andreas Gläser
  • Lesedauer: 2 Min.

Dass ich im Sommer ’89 von Ost- nach Westberlin ging und anderthalb Monate in einer Lichterfelder Sporthalle zeitweise mit 100 Leuten lebte, verriet ich vor einigen Wochen an dieser Stelle. Jedenfalls ging es von der Sporthalle kurz vor dem Schuljahresbeginn mit einigen Bussen zu einer vermeintlich grausigen Containersiedlung, die sich dann aber als freundliches Bungalowdörfchen erwies. Am S-Bahnhof Schöneberg lag der Tempelhofer Weg, wo auf einem Areal ein Dutzend zweistöckiger Bungalows errichtet worden war, deren Erstbezieher wir sein sollten.

Auf jeder Etage gab es vier Vierbettzimmer, zwei WCs mit Duschen, der Korridor war gleichzeitig die Küche, mitsamt praktischer Einbauten. Ein Junggesellenparadies. Auf unserem Zimmer wussten wir uns dufte zu unterhalten oder freundlich zu ignorieren. Eine Arbeit hatte jeder meiner Zimmergenossen schnell gefunden, was sich bei der Wohnungssuche nicht negativ auswirkte. Schöneberg hielt damals noch, was der Name versprach.

Ich suchte eine Wohnung im dortigen Postzustellbezirk 62, auch Kreuzberg 61 hätte ich mir gefallen lassen. Ich war nicht bereit, meinen wertvollen Wohnberechtigungsschein mit Dringlichkeit für eine Bleibe am Arsch Berlins herzugeben. Lieber stand ich zweimal pro Woche in der Passauerstraße am KDW vor dem Ladenbüro an, wo die sozialen Wohnungsbaugesellschaften ihre Angebote bündelten. Einige Male ließ ich die freundliche Mitarbeiterin verwundert zurück, wenn ich ihr Angebot einer Wohnung in Reinickendorf oder Spandau ablehnte; denn ich war nicht nach Rock ’n’ Roll City übergesiedelt, um in einem Schlagerreservat zu verenden.

Andere Jungs und Mädels verließen relativ schnell diese Bungalowsiedlung, während ich dort überwinterte und erlebte, wie zunehmend schwierige Klientel einzog, welche für die umherstreunenden Speichellecker einer Versicherungsfirma keine Zielgruppe mehr darstellte. Alkoholiker aus Brandenburg, Schulverweigerer aus Rumänien. Man nervte sich nicht nur im fernen Gemeinschaftshaus und auf den Rollrasenquadraten ringsum. Selbst für die letzten Erstbezieher bedeutete diese Gegenwart sozialen Sprengstoff. Mindestens zwei Ehen dürften zerbrochen sein, eine flotte Rothaarige meinte, sich das Leben nehmen zu müssen.

Im Frühling 1990 absolvierte ich den Umzug in die Wohnung meiner Schöneberger Einkaufs- und Ausgehstraße. Herrlich, kaum Klamotten, aber ein Koffer mit Geld. Als Bauarbeiter hatte ich die Monate zuvor jeweils 2000 Mark auf die Kralle bekommen und für mein Bungalowbettchen nur 150 zahlen müssen. Schnell waren die Verstimmungen des nassgrauen Wendewinters verflogen. Im Sommer wurde Deutschland in Italien Fußballweltmeister, und das war erst der Anfang.

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