Letzte Station: Portbou

Walter Benjamin starb vor 75 Jahren auf seiner Flucht vor der Gestapo

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

Am frühen Morgen, noch im Schutz der Dunkelheit, brachen sie in Banyuls-sur-Mer auf: Lisa Fittko, die mutige Fluchthelferin, die die Gruppe führte, die Fotografin Henny Gurland, ihr siebzehnjähriger Sohn und Walter Benjamin, der Kulturkritiker und Schriftsteller »mit dem durchgeistigten Gelehrtenkopf«, achtundvierzig Jahre alt, auffallend höflich, herzkrank und weltfremd, wie Lisa Fittko sehr viel später in ihrem Bericht schreiben wird. Ausgestattet mit einer Skizze des Weges, der sie sicher über die Pyrenäen führen sollte, und den Ratschlägen des Bürgermeisters zogen sie los.

Das Gelände felsig, zeitweise sehr steil. Geröllblöcke, Gebüsch, Dornen, die Pfade oft nur zu ahnen. Mehrmals liefen sie in die falsche Richtung. Der Tag wurde heiß. Benjamin, immer wieder zu kurzen Pausen gezwungen, hatte Mühe, seine schwere Ledertasche zu schleppen. Das Manuskript darin sei wichtiger, erklärte er, als sein Leben. Die anderen nahmen ihm das schwarze »Monstrum« manchmal ab. Dann ging er so, dass er die Tasche immer sehen konnte. Er atmete schwer. Einmal versagten ihm die Beine den Dienst, so dass er nur mit Hilfe der anderen weitergehen konnte. Er klagte nicht. Als sie die spanische Grenze erreichten, musste Lisa Fittko umkehren. Von einem Hügel konnten die Flüchtlinge nun die Straße sehen, die nach Portbou führte. Die Rettung war nah.

Die Geschichte dieser Pyrenäenüberquerung ist beklemmend, sagt Erdmut Wizisla im Vorwort seines Buches »Begegnungen mit Benjamin«. Er hat, fünfundsiebzig Jahre nach dem Tod des Schriftstellers, sämtliche Zeugnisse versammelt, die über den Mann, sein Wesen, sein Denken und seine Flucht Auskunft geben, Texte von Adorno, Hannah Arendt, Ernst Bloch und Lisa Fittko bis zu Gershom Scholem und Charlotte Wolff, Erinnerungen, Berichte, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen. Die Beobachtungen und Urteile differieren. Er sei kommunikativ gewesen, heißt es, offen, reisefreudig, empfänglich für Freundschaften (die freilich genauso abrupt enden konnten), andere sahen in ihm eher einen Eigenbrötler, ernst, verschlossen, sonderbar. Dagegen schrieb die Ärztin und Psychologin Charlotte Wolff: »Walters Lachen ist unvergesslich. Es gehört zu ihm wie ein Geburtsmal.«

Natürlich ist der späte Benjamin nicht mit dem jüngeren zu vergleichen, von dem Franz Hessel erzählt, man habe im Sommer 1929 turbulente Nächte verbracht. Da waren die Zeiten, verglichen mit dem, was dann kam, noch nicht von so existenzieller Bedrohung geprägt wie in den Jahren nach 1933. Sicher, auch da stand nicht alles zum Besten. Viele Hoffnungen, mit denen der jüdische, 1892 geborene und in den vornehmen Gegenden Berlins aufgewachsene Bürgersohn seine Laufbahn begonnen hatte, erfüllten sich nicht. Den empfindlichsten Rückschlag musste er 1925 hinnehmen, als die Frankfurter Universität seine Habilitationsschrift über den Ursprung des deutschen Trauerspiels ablehnte. Der Weg zum Katheder war damit verbaut, die Aussicht auf ein festes Einkommen dahin. Es gab nun keine andere Möglichkeit mehr: Er, der sich vor allem als Wissenschaftler sah, musste sein Brot als freier Schriftsteller verdienen.

Da stand er nun, gescheitert, erniedrigt, und schuf in den kommenden anderthalb Jahrzehnten ein erstaunliches Werk, weitgespannt an Stoffen und Themen. Große kulturkritische und geschichtsphilosophische Erörterungen auf der einen Seite, Abhandlungen über Charles Baudelaire oder Goethes »Wahlverwandtschaften«, auf der anderen eine literarische Prosa von wunderbarer Leichtigkeit. Benjamin verfasste Rezensionen und kleine Feuilletons, umfangreiche Essays, Aphoristisches, politische Analysen, schrieb fürs Radio, die »Frankfurter Zeitung« und die »Literarische Welt«, er übersetzte, gemeinsam mit Franz Hessel, Marcel Proust, beschäftigte sich mit dem Marxismus, publizierte die kurzen, seit 1925 veröffentlichten Texte im Band »Einbahnstraße« und bei Rowohlt sein Buch über das deutsche Trauerspiel.

Inzwischen, unter dem Eindruck der politischen und wirtschaftlichen Krisen, hatte er sich der sozialistischen Linken genähert. Die finanziellen Verhältnisse blieben indessen prekär. Das väterliche Erbe war in den Jahren der Inflation zerronnen, das Einkommen dürftig. Einen im Juli 1931 geführten »Briefwechsel mit dem Finanzamt« hat er selber veröffentlicht. Seine Lage, schrieb er, sei »die denkbar schwierigste«. Er bat deshalb um Stundung seiner Steuerschulden. Die Behörde in Berlin-Wilmersdorf lehnte das Gesuch brüsk ab. »Seit Erfindung der Schreibekunst«, kommentierte Walter Benjamin den Vorgang, »haben die Bitten viel von ihrer Kraft verloren, die Befehle hingegen gewonnen.« Gegen die Darstellung seiner Misere spricht allerdings, abgedruckt in der Sammlung Wizislas, eine irritierende Erinnerung Max Rychners, der damals das Feuilleton der »Kölnischen Zeitung« leitete. Benjamin lud ihn einmal in ein teures Berliner Restaurant ein, und als der Gastgeber die Rechnung bezahlte, kam eine mit Geldscheinen wohlgefüllte Brieftasche zum Vorschein.

Mitte März 1933 hat Walter Benjamin, ohne Illusion, was kommen würde, Deutschland verlassen. Er lebte zunächst auf Ibiza, ging dann nach Paris, nahm 1935 am Internationalen Schriftstellerkongress teil, ohne dort allerdings zu sprechen, geriet in finanzielle Schwierigkeiten, besuchte Brecht im dänischen Exil, veröffentlichte in der Schweiz den Band »Deutsche Menschen« mit Briefen großer Denker und Künstler, der sich als nahezu unverkäuflich erwies, schrieb den Goethe-Artikel für die Große Sowjet-Enzyklopädie und einen Bericht über seine Moskauer Eindrücke. Nur die erhofften Arbeitsmöglichkeiten in der Sowjetunion zerschlugen sich. Gerettet hat ihn das Frankfurter, später in New York ansässige Institut für Sozialforschung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, für dessen Zeitschrift er arbeitete.

Adorno hat denn auch, zehn Jahre nach Ende des Krieges, bei Suhrkamp zum ersten Mal eine Auswahl der Schriften ediert, geschöpft aus dem Fundus der Texte, die Benjamin einst von Berlin nach Paris, später, im Exil, vorsorglich nach New York geschickt hatte. Damals, 1955, wollten im ersten Jahr nicht einmal tausend Käufer die beiden Bände haben. Die Zurücksetzung, die Benjamin immer wieder erfahren hatte, setzte sich noch eine Weile fort (in der DDR hat man ihn noch später und dann auch nur in Ausschnitten zur Kenntnis genommen). Heute gehört er längst zu den Klassikern der Moderne, verlegt in Taschenbüchern, Auswahlbänden und Gesamtausgaben.

Die jüngste Edition seiner Arbeiten, eine Sonderedition zum Jubiläum, hat die Wissenschaftliche Buchgesellschaft in Darmstadt auf den Markt gebracht: fünf handliche rote Bände in einer Kassette, für Interessenten mit eher bescheidenen finanziellen Möglichkeiten, die sich nicht mit den lieferbaren Broschuren zufrieden geben möchten, ein großartiges Angebot. Hier ist zu einem akzeptablen Preis, ideal für ambitionierte Einsteiger, alles Wichtige versammelt. Vorn die großen Abhandlungen und autobiografischen Schriften, dann Vorträge, Kritiken, Feuilletons und sein einzigartiges Buch »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert«, am Ende Aufzeichnungen, Fragmente, das »Moskauer Tagebuch«, die Denkbilder und Rundfunkgeschichten für Kinder. Herausgeber Burghardt Lindner hat zu seiner Auswahl, die auf die Texte und den Satz der großen Suhrkamp-Ausgabe zurückgreift, auf Kommentare aber verzichtet, ein knappes Vorwort geschrieben, das keine Benjamin-Kenntnisse voraussetzt und über den Lebensweg des Autors informiert.

Als Hitlers Truppen 1939 über Frankreich herfielen, hat man auch Walter Benjamin in ein Internierungslager gesperrt. Er kam nach der Freilassung noch zu einem Visum für die USA, aber er besaß, als die spanische Grenzstation erreicht war, nicht das inzwischen notwendige französische Ausreisevisum. Ihm drohte in Portbou die Abschiebung ins besetzte Frankreich und die mögliche Auslieferung an die Gestapo. Er hatte schon früher den Selbstmord in Erwägung gezogen, jetzt, in der Nacht zum 27. September 1940, schienen die Morphiumtabletten, die er bei sich trug, der letzte Ausweg. Man fand ihn morgens sterbend in seinem Hotelzimmer. Die spanischen Grenzposten ließen seine Begleiter daraufhin unbehelligt weiterziehen.

Das Manuskript, das Walter Benjamin bei seiner Flucht so ängstlich gehütet hatte, wurde nie gefunden.

Walter Benjamin: Ausgewählte Werke, 5 Bd. in einer Kass., hg. von Burghardt Lindner. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 3367 S., geb., 99,95 €, ab 1. Februar 2016 129 €. Begegnungen mit Benjamin. Hg. v. Erdmut Wizisla. Lehmstedt Verlag, 400 S., geb., 24,90 €.

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