Göttinnen-Dämmerung

Nach fast zehn Jahren im Amt hat für Angela Merkel der Abstieg vom Gipfel der Macht begonnen

  • Peter Richter
  • Lesedauer: 5 Min.
Was lange beschönigend, gar bewundernd als Stärke der Kanzlerin beschrieben wurde, erweist sich in Krisenzeiten als bedrohliche Schwäche - ihre Konzeptionslosigkeit. Siehe Flüchtlingsfrage.

Als erster hat Wolfgang Schäuble den Autoritätsverfall erahnt. Und genutzt. Seit über 40 Jahren in der Politik, spürt der Bundesfinanzminister seismische Bewegungen frühzeitig; in diesem Fall war es die Unruhe in den C-Parteien über Griechenlands Unbotmäßigkeit in der Schuldenfrage. 29 Unionsabgeordnete hatten im Februar der Großen Koalition diesbezüglich die Gefolgschaft verweigert, 118 weitere ihre Bauchschmerzen zu Protokoll gegeben. Mit solchem Rückenwind startete Schäuble seinen Alleingang in Richtung Grexit, gegen den erklärten Willen Merkels. Sie konnte ihn zwar noch bremsen, aber die Zahl der Neinsager stieg auf 65, und der Finanzminister erhielt demonstrativ Applaus für sein Manöver.

Plötzlich war sie wieder da, jene schweigende Minderheit in der Union, die schon lange mit ihrer Vorsitzenden hadert und bislang durch deren glänzende demoskopische Werte ruhig gestellt wurde. Meist nur hinter der vorgehaltenen Hand hatte sie immer wieder den Kurs Merkels als »Sozialdemokratisierung« der Union beklagt, das prägende konservative Element vermisst und sich zunehmend als heimatlos in ihrer Partei empfunden.

Insbesondere galt dies für die CSU mit ihrem Anspruch, dass zumindest in Bayern keine Kraft rechts von den Christsozialen das Haupt erheben dürfe, weshalb sie mehr oder minder rechtslastige Positionen seit jeher gleich selbst abzudecken versuchte. Solange die Vorsitzende der Christdemokraten in der immer stärker in den Fokus rückenden Flüchtlingsfrage unbestimmt blieb, wie gewohnt zu lavieren versuchte und die bayerische Position nicht konterkarierte, übte man den Schulterschluss. Doch als Bundeskanzlerin Merkel die Einreise von Flüchtlingen plötzlich ohne besondere Bedingungen zuließ, drehte sich der Wind.

Was zunächst bei Horst Seehofer noch als verständnislose Reaktion auf den plötzlichen Kurswechsel daherkam (» … ein Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird.«) entwickelte sich Schritt für Schritt zur Grundsatzkritik an Angela Merkel (»Der Staat hatte die Zügel schon völlig aus der Hand gegeben.«) und gipfelte schließlich in der Verdächtigung von der Qualität einer abwegigen Verschwörungstheorie (»Die Kanzlerin hat sich meiner Überzeugung nach für eine Vision eines anderen Deutschland entschieden.«). Ein Dolchstoß aus den eigenen Reihen, den die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« schon mit den innersozialdemokratischen Intrigen eines Herbert Wehner gegen Willy Brandt 1973 verglich, die zu dessen baldigem Sturz beitrugen.

Die CSU hat der bayerische Ministerpräsident dabei voll hinter sich, aber auch in der CDU findet er schnell Anhänger, darunter unerwartete. Innenminister Thomas de Maizière monierte öffentlich Merkels Entscheidung; da sei etwas »außer Kontrolle« geraten, um - selbst in der Kritik ob monatelanger Untätigkeit im Angesicht der herannahenden Flüchtlinge - schnell hinzuzufügen. »Wir sind jetzt dabei, die Dinge wieder etwas zu ordnen.« Ein Bundestagsabgeordneter aus Schleswig-Holstein verlangte statt der Willkommens- eine »Verabschiedungskultur«. Und sogar Bundespräsident Gauck vergaß seine sonst unvermeidliche Rhetorik und zeigte die Grenzen von Freiheit und Selbstbestimmung in der Bundesrepublik auf: »Unsere Aufnahmekapazität ist begrenzt.«

Noch nie in ihrer Amtszeit schlug Angela Merkel soviel Ablehnung aus den eigenen Reihen entgegen. Und noch nie auch wirkte sie so hilflos. Jetzt genügte es nicht, die Dinge laufen zu lassen, abzuwarten, wie sich die Gewichte ordnen, abzuschätzen, mit welcher Position man am ehesten in die Offensive kommt. Jetzt wäre nicht nur ein überzeugendes Konzept gefragt, sondern auch eine innere Überzeugung von seiner Richtigkeit und entschlossenes Handeln zu seiner Durchsetzung. Weil aber schon ersteres fehlt, sind die Dinge aus dem Ruder gelaufen.

Spätestens mit den Hunderten Ertrunkenen im Mittelmeer war das Scheitern der EU-Flüchtlingspolitik klar - und damit auch das Scheitern der Abschottungsstrategie jener Länder, die sich - weit entfernt von den EU-Außengrenzen - in Sicherheit vor Flüchtlingen wähnten. Doch das ignorierten Bundesregierung und Kanzlerin; monatelang war die anschwellende Bewegung nach Europa für sie kaum ein Thema. Es gab kein Nachdenken über neue Lösungen und auch keine Vorkehrungen. Erst die Bilder von Stacheldrahtverhauen quer über den Kontinent und der Druck auf die deutsche Grenze veranlassten die Kanzlerin zum Handeln - nun spontan, aus dem Bauch heraus, denn einen Plan, eine Agenda hatte sie nicht.

Dennoch schien der Überraschungscoup zu gelingen. Eine deutliche Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger begrüßte den Schritt, und viele von ihnen brachten sich selbst ein, halfen, wo immer es nötig war. Aus Berlin aber sei außer »warmen Worten und schlauen Sprüchen« nicht viel gekommen, monierten die besonders belasteten Kommunen. Sie meinten vor allem das Bundesinnenministerium, das weniger half als bremste. Hausherr Thomas de Maizière setzte nach nur einer Woche durch, dass wieder Grenzkontrollen in Deutschland eingeführt wurden, was die Lage allerdings nicht entspannte. Nun flüchtete sich der Minister in pauschale Diffamierungen der Flüchtlinge, die man sonst nur auf rechtslastigen Internetportalen findet.

Angela Merkel lässt ihn gewähren, mehr noch als Wolfgang Schäuble in der Griechenland-Frage. Ihr fehlt es an einem eigenen Konzept und wohl auch wirklicher Anteilnahme. Der ihr zugeschriebene Satz »Ist mir egal, ob ich schuld am Zustrom der Flüchtlinge bin, nun sind sie halt da«, verrät nicht gerade Herzblut, sondern eher taktisches Kalkül, das diesmal nicht aufgegangen ist. Der von der CSU geforderten Fehlerdiskussion verweigert sie sich zwar, nicht aber den bereits beschlossenen und noch geplanten Maßnahmen der »Verabschiedungskultur«.

Es dürfte gerade dieses Taktieren und Lavieren sein, das zur Enttäuschung über die Bundeskanzlerin führt, vor allem bei jenen der immer noch zwei Drittel der Bevölkerung, die die Hilfe für Flüchtlinge gutheißen oder sie sogar verstärkt wissen wollen. Einen schnellen Sturz muss sie mangels Nachfolgekandidat nicht fürchten, aber die »Göttinnen-Dämmerung« hat wohl begonnen. Selbst Kanzleramtsminister Peter Altmaier sah sich veranlasst, Zweifel daran zu zerstreuen, dass Angela Merkel genügend Rückhalt habe, den Rest der Legislaturperiode durchzustehen - und das wenige Wochen, nachdem über eine vierte Kanzlerschaft seiner Chefin spekuliert wurde.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal