Aussichtsvoller Absatzmarkt

Die deutsche Industrie und Diplomatie wollten 1925 den Vertrag mit Sowjetrussland

  • Kurt Laser
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor 75 Jahren, am 12. Oktober 1925, unterschrieben in Moskau der deutsche Botschafter in der UdSSR Dr. Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau und der Wirkliche Geheime Rat Dr. Paul von Koerner im Namen des Deutschen Reichspräsidenten, der Stellvertretende Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Maxim Litwinow und das Mitglied des Kollegiums des Volkskommissariats für Außenhandel Jakob Hanetzky im Namen des Zentral-Exekutivkomitees der UdSSR ein Abkommen zwischen dem Deutschen Reich und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. In diesem nahmen die Wirtschaftsbeziehungen den zentralen Platz ein. Doch es war mehr als nur ein Handelsvertrag. Denn an jenem Tag wurden zudem Vereinbarungen über Niederlassungen und Rechtsschutz, über Eisenbahnverkehr und Seefahrt, über Steuern und Schiedsgerichte abgeschlossen.

Die Verhandlungen hatten bereits am 26. Juni 1923 in Berlin begonnen. Es war aber immer wieder zu Unterbrechungen gekommen. Das Interesse der deutschen Wirtschaft am riesigen sowjetischen Markt, der dringend gewaltiger Investitionen bedurfte, war virulent. Dem Vertragsabschluss standen jedoch einige Hindernisse entgegen, die vor allem im sowjetischen Staats- und Wirtschaftssystem begründet waren. Sowjetrussland hatte den Immobilienbesitz, die Bodenschätze, die gesamte Großindustrie, das Bankwesen und die Handelsflotte nationalisiert und mit dem staatlichen Außenhandelsmonopol ein Instrument, das die freie wirtschaftliche Betätigung im Lande und in den Außenwirtschaftsbeziehungen einschränkte. Aber auch die deutsche Seite kam bei den Verhandlungen den sowjetischen Hauptwünschen nach erweiterter Exterritorialität der Handelsvertretung in Berlin und Erleichterung des Viehexports nicht oder nur beschränkt nach. Zur Vergabe von Krediten wollte sie erst einmal keine bindende Erklärung abgeben.

Immerhin konnten die Verhandlungen über das Niederlassungs-, das Seeschifffahrts- und das Nachlassabkommen bis zum Frühjahr 1924 abgeschlossen werden. Für den Wirtschaftsvertrag blieben zwar noch einige Fragen offen, so zum Akquisitionsrecht, über Einfuhrquoten, den Postpaketverkehr und den Warentransit. Trotzdem deutete alles auf einen baldigen positiven Ausgang hin, als am 3. Mai 1924 etwas geschah, was die Situation völlig veränderte: Auf der Suche nach einem geflüchteten kommunistischen Untersuchungsgefangenen drangen Polizisten in das Gebäude der sowjetischen Handelsvertretung in der Berliner Lindenstraße ein und durchsuchten die Räume. Die Wirtschaftsverhandlungen wurden unterbrochen, die Beziehungen froren erst einmal ein. Das passte aber nicht ins Kalkül der deutschen Außenpolitik. Ago von Maltzahn, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, beschwerte sich beim preußischen Minister des Innern darüber, dass die Durchsuchung erfolgt war, ohne seine Dienststelle vorher zu unterrichten. Die schweren politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen, so Maltzahn, machten sich bereits negativ bemerkbar.

Nach zähen Verhandlungen konnte schließlich am 29. Juli 1924 ein Protokoll unterzeichnet werden, das den Konflikt beilegte. Die Verhandlungen wurden wieder aufgenommen, ohne jedoch sichtbar voranzukommen. Das hing unter anderem damit zusammen, dass Deutschland inzwischen mit den Westmächten über einen politischen Garantiepakt verhandelte. Zudem liefen die deutschen Großagrarier gegen das geplante Vertragswerk Sturm, da sie die Einfuhr billiger Agrarerzeugnisse aus der UdSSR fürchteten. Moskau wiederum war nicht bereit, auf das staatliche Außenhandelsmonopol zu verzichten und versuchte, die Exterritorialität, die für die Botschaft galt, auch auf die Handelsvertretung in Berlin und deren Filialen in anderen deutschen Städten auszudehnen.

Dass der Vertragsabschluss schließlich doch noch gelang, war nicht nur auf exportorientierte deutsche Wirtschaftskreise zurückzuführen, sondern hing auch mit den Verhandlungen über den Garantievertrag zusammen. Die deutsche Diplomatie spielte die russische Trumpfkarte als Druckmittel gegenüber den Westmächten aus. Außenminister Stresemann schrieb am 25. Mai 1925 an Koerner, den Leiter der deutschen Handelsdelegation, dass die allgemeine politische Lage es dringend erscheinen lasse, zu einem Abkommen mit Russland zu kommen. Selbst eine scheinbare Verständigung mit Sowjetrussland brächte eine wesentlich günstigere Position für Deutschland, ergänzte er in einem Memorandum am 13. Juli.

Mit dem am 12. Oktober 1925 schließlich zustande gekommenen deutsch-sowjetischen Vertragswerk wurden die im Rapallo-Vertrag von 1922 enthaltenen programmatischen Vereinbarungen praktisch ausgestaltet und Grundlagen geschaffen, auf denen sich die Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion in einer für beide Seiten nützlichen Weise entwickeln konnten. »Möchte es unserer Geschäftswelt gelingen, das große und aussichtsvolle russische Absatzgebiet auch für die Zukunft sich zu sichern«, wünschte sich Koerner.

Unmittelbar nach Abschluss des Vertrages gewährte ein Konsortium deutscher Großbanken der Sowjetunion einen Kredit über 75 Millionen Reichsmark, im folgenden Jahr über 300 Millionen RM. Für die damalige Zeit beachtliche Summen. Diese und weitere Kredite wurden von der Sowjetunion pünktlich und vollständig zurückgezahlt. In der Reichstagsdebatte am 1. Dezember 1925 betonte der Sprecher der Deutschen Demokratischen Partei, Ludwig Haas: »Schon mit dem Rapallo-Vertrag und auch jetzt wieder mit diesem Vertrag bringen wir zum Ausdruck, dass wir auch mit diesem politisch und wirtschaftlich ganz anders organisierten Rußland gute Beziehungen unterhalten wollen. Wir stellen uns auf den Standpunkt, dass es uns nicht angeht, wie sich Rußland im Innern seinerseits organisiert.«

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