Die Vieldeutigkeit der Dinge

»Der Doppelphönix« - Poeme des chinesischen Dichters Ouyang Jianghe

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Schön gestaltet, mit einer Kalligraphie des chinesischen Dichters und Kalligraphen Ouyang Jianghe auf dem Einband, erscheint das schmale Buch auf den ersten Blick fremd und reizvoll zugleich. Man braucht etwas Zeit, um in diese poetische und visuelle Welt einzutauchen und sie sich zu erschließen. Wie vielfältig die Quellen sind, aus denen sie entspringt, wird erst langsam deutlich, ebenso, dass hier ganz Gegenwärtiges, Alltägliches mit vielerlei geistigen Traditionen eine spannungsvolle Symbiose eingegangen ist.

Diese Poetik ist in ihrer Vieldeutigkeit einzigartig, besser zu verstehen durch die Einführung des Übersetzers, Wissenschaftlers und Dichters Wolfgang Kubin. Bescheiden nennt er diese Lesehilfe »Nachbemerkung«, aber sie ist viel mehr. Kubin gibt Einblicke in die Dichter-Werkstatt und Weltsicht Ouyangs, der in Peking lebt und in aller Welt zu Hause ist. Der wiederum dankt es ihm unter anderem mit dem Widmungs-Poem »Das große Recht, das große Unrecht«. Dank gilt vor allem der schwierigen Übersetzertätigkeit, denn, so Kubin: »Jedes Wort im Chinesischen hat tausend Wörter im Deutschen hinter sich. Wir übersetzen also keine Wörter, wir übertragen Visionen.« Die »Visionen« dieses Bandes sind zu neun größeren und kleineren Gedichten zusammengefügt. Diese Poeme gleichen Schmuckstücken, deren Perlen immer wieder neu und anders funkeln.

Den größten Raum nimmt das Langgedicht »Doppelphönix« ein, dem Wolfgang Kubin den Stellenwert eines zukünftigen »Jahrhundertgedichts« beimisst. »Fenghuang«, der Doppelphönix, verkörpert in der chinesischen Sage das Männliche und Weibliche in einem. Das Langgedicht widmet sich einer Skulptur des Gegenwartskünstlers Xu Bing. Der provozierende Riesenvogel aus zwölf Tonnen Altmaterial regte den Dichter zu einem großen Text voller Bilder, Metaphern und Assoziationen an. Da sind vor allem die Bezüge zum Fliegen, Aufsteigen und Fallen. In der Vogelperspektive rückt der Himmel näher, da fliegen Gedanken schneller als Flugzeuge, rückt die Erde mit ihrem Immobiliengeschacher weit weg, werden Wolkengebilde zu einem Poem von Majakowski oder zu »Metamorphosen« von Richard Strauss. Wie viel von Bach, Goethe oder Hölderlin enthalten ist, weiß am besten der Kommentator Kubin zu sagen.

Aus der »Phönixperspektive« oder der Sicht eines erhabenen Leoparden (so im Gedicht »Der Leopard des Herrn Huang«) werden Menschen zu elenden, kleinen Mäusen, der Leopard oder Panther durchwandert Zeiten und Räume und jagt dabei den Dichter vor sich her. Wie der berühmte Maler Bada Shanren sich einst in Ermangelung von Fischen solche malte und damit das Wasser bewegte, so bewegen die Dichter die Wirklichkeit, bewirken »Das Ende aller Traurigkeiten«, benennen großes Recht und großes Unrecht, steigen hoch und fallen tief, erschaffen die Bilder vom Ende und vom Neuanfang der Menschheit.

Ouyang Jianghe: Der Doppelphönix. Ein Langgedicht sowie andere längere Poeme. Aus dem Chinesischen mit einer Nachbemerkung von Wolfgang Kubin. Chinesisch und deutsch. Mit Kalligraphien von Ouyang Jianghe zu den Gedichten. Lychatz Verlag Leipzig. 127 S., geb., 22,95 €.

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