Der absurde Alltag

Vera Kissel und ihr Band »Mantelprobe«

  • Ernst Schneider
  • Lesedauer: 2 Min.

Vera Kissel ist eine Rollenspielerin. Das gilt nicht ganz so ausgeprägt für ihre Lyrik. Der mehr die Selbstbetrachtung pflegende Band »Vogelkind« erschien 1998. Es gilt jedoch für ihre seit 1997 auf die Bühne gebrachte Dramatik, unlängst für ihr Jugendbuch Buch »Was die Welle nahm«, von dem im Dressler Verlag jetzt die Fortsetzung »Glückssucher« erschien, und erst recht für ihre Erzählungssammlung »Mantelprobe«.

Fünfzehn Texte vereint der vom Jenenser Büchermenschen Jens-Fietje Dwars herausgegebene und gestaltete Band, den äußerst passend eine Radierung von Gerd Mackensen ziert, die ein in der Schwebe gehaltenes Paar zeigt. Paarverhalten dominiert den Band, dabei hält nicht selten das Skurrile Einzug. Die treffliche Verknappung, das Herstellen einer Aura von Situation und Sprache, das Münden des Erzählten in eine Pointe - darin ist Vera Kissel meisterlich.

Dabei bewegt die 1959 in Heppenheim an der Bergstraße geborene und jetzt in Potsdam lebende Autorin ihre Figuren nicht auf dem Schachbrett eigener Eitelkeit. Aus der Distanz der scheinbar objektiven Beobachterin lernen wir zum Beispiel das Mädchen Hilde kennen, genannt »Baby«, oder aus dem Blickwinkel eines pubertierenden Jungen die übergewichtige »Tante Gitti«. Als Leser kommen wir ganz nah heran, werden förmlich in die Geschichten hineingezoomt. Das gilt auch für das Dramolett »Der Storch«, dem die Autorin einen Schluss versetzt, dass man als Rezensent in Jubel ausbrechen möchte. Aber um nichts vorwegzunehmen, verbietet sich bei Vera Kissels Geschichten ein Zerbröseln der Prosa in den Stenogramm-Stil. Man brächte den Leser ums halbe Vergnügen.

Sicher gibt es auch Schwaches oder sagen wir weniger Starkes unter diesen versammelten Erzählungen wie »Jagen«, »Keine Toten, hoppla« oder »Der Wecker«. Doch lassen diese Texte sich leicht überblättern, um zu den Perlen wie »Ein wildes Mädchen«, »Hund« oder »Auf dem Sofa« zu kommen. Und allein die Eingangsgeschichte »Es gibt jemanden, es gibt niemanden« sowie die an den Ausgang des Buches gesetzte Titelgeschichte »Mantelprobe«, beides kurzgefasste Tragödien, lohnen den ganzen Erzählungsband, der im Regal durchaus seinen Platz neben den Erzählungen Salingers finden sollte.

Vera Kissel: Mantelprobe. Erzählungen. Mit einer Radierung von Gerd Mackensen. Quartus Verlag. 120 S., engl. Broschur, 12,90 €.

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