Landeanflug aus Richtung Norden

Russland erleidet ersten Verlust - in Syrien?

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Abschuss eines russischen Frontbombers vom Typ Su-24 M durch die türkische Luftabwehr bietet allerlei Möglichkeiten zur Eskalation der »syrischen Frage«.

Dank weltweiter Vernetzung konnte man im Abstand von wenigen Minuten »dabei sein«. Noch bevor das türkische Verteidigungsministerium am Dienstagvormittag den Abschuss eines Luftraumverletzers unbekannter Nationalität vermeldete, konnte man in »Haber Türk TV« den Absturz des brennenden Jets beobachten und anhand der Silhouette eine Su-24 erahnen. Man sah, wie sich zwei Punkte von der Maschine lösten und sich die Fallschirme der Piloten öffneten.

Aus dem Umfeld des türkischen Präsidenten wurde bestätigt, zwei F-16-Jäger hätten - nach mehrmaliger Aufforderung, den türkischen Luftraum zu verlassen - den Eindringling abgeschossen. Aus Moskau hörte man indessen, dass die Maschine vermutlich »durch Beschuss vom Boden« vernichtet worden sei. Sie sei in 6000 Metern Höhe über syrischem Territorium geflogen.

Kurz danach tauchten auf arabischsprachigen Websites Fotos zweier Hubschrauber auf, die über bewaldetem Bergland nach den Fliegern suchten. Nur Minuten später war ein Video zu sehen, in dem Rebellen einen der Piloten filmten. Tot. Fast zeitgleich veröffentlichte die Luftwaffe Ankaras Radarbilder, die die Luftraumverletzung bestätigen sollten. Der türkische Ministerpräsident kündigte Konsultationen mit der NATO an, das Bündnis berief für 17 Uhr eine Sondersitzung auf Botschafterebene ein.

Seit dem 30. September fliegt die russische Luftwaffe auf Bitte der Regierung in Damaskus Angriffe gegen Gegner des Regimes von Baschar al-Assad. Bis Dienstag ohne eigene Verluste. Die »Fliegergruppe der Luft-Kosmischen Kräfte Russlands« habe mindestens 2700 Ziele zerstört und Hunderte Dschihadisten getötet. Sagt der Generalstab in Moskau und verweist auf bis zu 140 Einsätze pro Tag.

Bereits im Juni deutete sich das Eingreifen Russlands auf Seiten des Regimes in Damaskus an. Damals wurden die Schiffsverbindungen zwischen russischen Schwarzmeerhäfen und dem syrischen Tartus - von der NATO als »Syrien-Express« bezeichnet - intensiviert. Man baute den zivil-militärischen Flugplatz Quardaha unweit der syrischen Hafenstadt Latakia aus und richtete eine Luftbrücke ein. Im Radarschatten von Transport- und Zivilmaschinen flogen russische Kampfjets ein. Den Anfang machten am 18. September vier Su-30 M. Sie gehören zum 120. Regiment in Domna. Das liegt im Fernen Osten Russlands. Die Jäger sind für die Luftüberlegenheit zuständig. Einen Tag später folgten aus Primorsko-Achtarsk, das liegt am Asowschen Meer, zehn Su-25 SM sowie zwei Doppelsitzer gleichen Typs. Es handelt sich um alte, aber robuste Erdkampfflugzeuge. Eine unbestimmte Anzahl von Kampf- und Transporthubschraubern wurde ausgeladen. Am 20. September landeten zwölf Su-24 M aus Tscheljabinsk-Schagol. Zu diesen gleichfalls erprobten Frontbombern gehörte vermutlich die abgeschossene Maschine. Komplettiert wurde das Geschwader im Einsatz durch vier Su-34-Hightech-Maschinen, von denen allerdings zwei wieder abgezogen worden sein sollen.

Vor der Küste ist eine russische Armada aufgekreuzt, doch wesentlicher für den Einsatz sind die nicht sichtbaren, hochmodernen Geräte zur Aufklärung und Niederhaltung der gegnerischen Elektronik. Damit beherrschen die russischen Soldaten einen Radius von bis zu 300 Kilometern. Die USA richteten sich offenbar darauf ein. US-amerikanische und russische Militärs haben sich nach politischem Rückenwind aus Moskau und Washington auf Regeln der Koexistenz geeinigt. Sie betreffen die Abstände der Flugzeuge, gemeinsame Funkfrequenzen sowie eine permanente Kommunikationsmöglichkeit zwischen den Stäben in der Region. Damit alles funktioniert, hat man alles bei gemeinsamen Manövern getestet. Ähnliche Vereinbarungen traf Russland mit Israel. Die französischen Piloten, die sich seit jüngster Zeit an den Angriffen in Syrien beteiligen, werden von Moskau ohnehin wie Verbündete behandelt.

Anders ist das mit der Türkei. Das Land beschwerte sich bereits mehrfach - auch durch Einbestellung des russischen Botschafters - über Luftraumverletzungen durch Putins Piloten. Immer stiegen F-16-Abfangjäger auf. Beispiel 3. Oktober: Nicht nur einmal flogen eine Su-24 M und eine Su-34 über der Provinz Hatay in den türkischen Luftraum hinein. Das ist jenes Gebiet, in dem es auch zum jüngsten Konflikt gekommen ist.

Ein Blick auf die relativ statische Lagekarte weist auf Gründe für permanente russische Einsätze gerade in diesem Gebiet hin. Man versucht offenbar, die Regierungstruppen bei Aleppo zu unterstützen. Aus dem Osten drückt der IS. Aus dem Westen sogenannte gemäßigte Rebellen. Das sind in der Region vor allem turkmenische Kämpfer, sie werden von der Türkei unterstützt, ihnen »gehört« das Gebiet bis zur türkischen Grenze. In der Gegend um Bayır-Bucak im Norden der Provinz Latakia sollen derzeit verstärkt Bodenkämpfe toben.

In Moskau versuchte man nicht, die Luftraumverletzung vom 3. Oktober zu leugnen. Schon am 5. Oktober entschuldigte man sich. So etwas werde nicht mehr vorkommen, hieß es. Erklärt hat man das Eindringen mit der ungünstigen Wetterlage. Man habe den Flugplatz in Latakia von Norden her anfliegen müssen.

Nachvollziehbar auch im russischen Fernsehen war jedoch bestes Flugwetter. »Für uns sah das nicht wie ein Versehen aus«, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, wollte aber nicht über Motive Moskaus spekulieren. Doch er wies eindringlich darauf hin, dass der Luftraum des Bündnispartners Türkei gleichzeitig NATO-Luftraum sei. Die Südgrenze der Allianz ist derzeit mit Sicherheit noch sensibler als die, die im Osten Europas Sorgen bereitet.

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