Depressionen in der Disco

Heute: John Grant in Berlin

  • Michael Saager
  • Lesedauer: 3 Min.

Oha, die Themenwahl lässt tief blicken. Um Drogensucht, Depressionen und erlittene Homophobie geht es auf John Grants soeben erschienenem dritten Soloalbum »Grey Tickles, Black Pressure«. Der Musik selbst, die dem Glam-Rock der 70er und dem Wave der 80er Jahre, Princes Disco-Funk und poppigem House nicht alles, aber wohl am meisten verdankt, hört man das eher selten an. Üppig arrangiert, beatlastig-satt, mitunter auf den Dancefloor zielend, konterkariert sie gewissermaßen die tieftraurigen, bissig-sarkastischen oder wütenden Texte.

Obwohl es generell grob fahrlässig ist, künstlerische Inhalte eins zu eins in das Leben des Künstlers rückübersetzen zu wollen, so ist bei dem 47-jährigen Songwriter und ehemaligen Kopf der Indiepop-Band The Czars die Verlockung doch besonders groß. Mehr noch: Man kann sich kaum wehren gegen die Rolle des Voyeurs vom Popboulevard, wenn der Protagonist sämtliche Hüllen fallen lässt und dabei an den Grenzen der Zumutbarkeit entlang immerfort auf das zeigt, was ihn verletzt, umtreibt, krank und kaputt gemacht hat. In Interviews übrigens noch deutlicher als auf Platte.

So war es für Grant, der inzwischen glücklich liiert auf Island lebt, überhaupt nicht lustig, als schwuler Teenager im erzkonservativen Bundesstaat Colorado aufzuwachsen. Abgelehnt, auch von den Eltern. Das prägt. Später kamen Selbstmordgedanken, verschiedene Süchte und eine kreuzunglückliche Beziehung hinzu. Schließlich die Diagnose HIV positiv. Grant erzählt: »Mein ganzes Leben hindurch habe ich Leute kennengelernt, die mich ›schwule Sau‹ genannt haben (...) und ›Du bist ein Dreckstück‹, ›Leute wie dich sollte man umbringen‹.«

Von Drogen lässt er inzwischen die Finger, sagt er. Ohne Depressionen indes hätte er mit der Musik wohl nicht angefangen. Da ist man zwar wieder bei der vielstrapazierten These, nach der überzeugende Kunst zwingend großen Schmerz benötigt, aber Grant sagt eben auch das. Für seine Fans, nicht wenige schwule Schicksalsgenossen darunter, sind seine Depressionen so gesehen ein Glücksfall.

Hört man sich Grants neue Platte »Grey Tickles, Black Pressure« ein bisschen genauer an, weiß man einmal mehr, warum er so viele treue Fans hat: Herrlich böse rechnet er mit seinem Ex-Partner ab. Pointiert, witzig und mit selbstironischer Offenheit hadert er mit seiner Midlife Crisis, wundert sich etwa darüber, inzwischen selbst ein passabler Adressat für Hämorrhoiden-Salbe zu sein. Der Hitler-Vergleich, den er für all die gefährlichen homophoben Idioten in Anschlag bringt, ist sicher grenzwertig, aber Grant ist Amerikaner, da geht so was durch. Und wenn er mit opulentem Bariton-Schmelz in dem grandios schwelgerischen Disco-House-Stück »Disappointing« singt, dass selbst die allerschönsten Dinge, verglichen mit dem Liebsten, enttäuschen müssen, hofft man zu wissen: John Grant ist auf einem guten Weg. Das Glück sei mit ihm!

Konzert: John Grant, 26.11., Postbahnhof-Club, Friedrichshain, Einlass: 19 Uhr, Beginn: 20 Uhr.

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