Das tägliche Grummeln im Fels

Das Seismologische Observatorium in Sachsen zeichnet Erderschütterungen rund um die Welt auf

  • Harald Lachmann, Freiberg
  • Lesedauer: 4 Min.
In einem alten Bergwerk im sächsischen Elbschiefergebirge arbeitet in 36 Metern Tiefe das wohl spektakulärste Seismologische Observatorium Deutschlands. Geleitet wird es von Reinhard Mittag.

Es ist Mittwoch, kurz nach acht Uhr. Reinhard Mittag wirft die Monitore in seiner Messwarte an und vertieft sich wie immer zuerst in das, was der größte der fünf Bildschirme über Nacht an Messergebnissen des Breitbandseismometers aufgezeichnet hat. Leicht gekräuselte rote und blaue Linien verraten ihm so auf die Minute genau alle Signale, die das feurige Erdinnere an die Krusten des Planeten gesendet hat. Doch es schien ruhig. Kaum Erdstöße, gar Erdbeben, denkt er, als er plötzlich hellwach ist. Eine gewaltige Amplitude zehn Minuten nach Mitternacht wirkt so rabiat auf dem Display, als habe plötzlich ein harter Bass in sanftes Geigenspiel eingegriffen.

Im Nu hat Mittag auch die Wucht der Erderschütterung ermittelt: 7,1 auf der Richterskala. «In dieser Stärke bebt die Erde nur gut ein Dutzend Mal im Jahr», erzählt er. Durch die Auswertung der drei Richtungskoordinaten, in denen sein Seismometer unten im Bergstollen jedes tektonische Erdgrummeln registriert, wusste er auch schnell, wo die Erde erzitterte: «Südpazifik, nahe Vanuatu.» Dass dies mitten im Meer geschah, erklärt für ihn auch, dass die Schäden weitaus geringer waren als bei jenem Beben Tage später am Hindukusch, als die Messgeräte gar die Magnitude 7,5 anzeigten. Über 300 Tote und 1200 Verletzte waren hier zu beklagen.

Südpazifik oder Pakistans Küste am Indischen Ozean - für den diplomierten Geophysiker kommen schwerere Erdbeben hier nicht unerwartet. Denn beide Regionen befänden sich in «Subduktionszonen mit tiefen Gräben, in denen jeweils zwei Platten der äußeren Erdkruste gegeneinander driften». Er spricht darüber wie andere über Straßensperren oder Winterreifen. Sein ganzes Berufsleben lang hält er eben schon sein Ohr an den Puls des Planeten.

Gleich nach dem Studium an der TU Bergakademie Freiberg, die das Observatorium betreibt, hatte er sich 1976 um diesen Arbeitsplatz beworben. Ein Jahr später war er bereits dessen Leiter. Die sächsische Bebenwarte gab es da schon 16 Jahre, und das aus gutem Grund: Da sie sich in einem stillgelegten Bergwerk befindet, das ab 1866 eigentlich für die Eisengewinnung aufgefahren wurde, ist sie «direkt an den kompakten Fels eines devonischen Hornblendeschiefers angekoppelt, so der Hausherr. Das biete beste seismologische Registrierbedingungen. Überdies führten hier weder Fernstraßen vorbei, noch gebe es große Industrie.

Mittag greift sich Schutzhelm und Lampe und bittet, ihm zu folgen. Es geht in die Tiefe des Berges. Es wird eng, feucht und niedrig. Von Schiefernasen tropft Wasser, derweil sich der Gang 36 Meter abwärts windet. Dann eine Tür: Sie führt in einen unromantisch weiß gekalkten Raum, in dem vier Messgeräte lagern. »Alle schon ältere Bauart, nicht mehr in Betrieb«, klärt er auf. Denn im Gegensatz zu modernen Seismometern, die das ganze Spektrum ankommender Frequenzen in einem Instrument aufzeichnen, seien hier noch die einzelnen Messfühler auf mehrere Geräte verteilt gewesen. »Immerhin ermöglichte das schon das Zurückverfolgen der Signale, um deren Richtung und damit den Erdbebenherd zu bestimmen«, erzählt Mittag. Aber eben kein Vergleich zu heutigen Breitbandseismometern, wie sie auch hier das Herzstück der Bebenvorhersage bilden, seit Berggießhübel 1993 als eine von 20 deutschen Basisstationen in das weltweite Netz standardisierter Stationen integriert wurde. So schützt auch eine stabile Eichenholztür »das Allerheiligste«, wie er es lächelnd nennt.

Doch als er deren Riegel aufstemmt hat, ist die Ernüchterung groß: In einem ebenfalls weißen, kleinen Raum lässt sich neben ein paar Kabeln und Schaltern nur ein orangefarbener Kasten für den Datenlogger entdecken - und ein styroporverkleideter Würfel im Bierkastenformat. Auf ihm liegen ein Thermometer und ein Hygrometer. Keine Chance, den Sesam auch nur mal kurz zu öffnen. Das geeichte Instrument sei einfach zu empfindlich, bedauert der Stationsleiter. »Allein unsere Schritte registriert es schon …« Mithin bestehe das, was hier »wie unter einer großen Käseglocke« arbeite, aus einer federnd aufgehängten, schwingungsfähigen Masse, die selbst dann in Trägheit verharre, wenn sich Bodenerschütterungen auf das Gehäuse übertragen. Eben damit lasse sich die »Relativbewegung des Bodens als Längenänderung im Zeitverlauf messen«. Das Instrument erfasse dabei einen breiten Frequenzbereich von etwa 15 Oktaven, deutlich mehr als das menschliche Ohr.

Mittag kontrolliert noch Temperatur und Luftfeuchtigkeit, ohne aber mit Problemen zu rechnen: »13 Grad und 94 Prozent«, meint er nur kurz. Das variiere allenfalls »um ein Zehntel«. Auch wegen jener konstanten Bedingungen verfüge der Erdbebenfühler hier im Bergwerk über Topregistrierbedingungen. Jährlich erfasse er über 2000 Erdbeben aus allen seismisch aktiven Gebieten der Erde.

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