Wer zählt zu den »Entwicklungsländern«?

Beim UN-Klimagipfel in Paris sind wichtige Streitpunkte noch nicht auf dem Verhandlungsparkett angekommen

  • Nick Reimer, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.
Am Entwurf des neuen Weltklimavertrags wird heftig gefeilt. Gipfelgastgeber Frankreich will bis Montag einen fertigen Entwurf präsentieren.

46 Seiten Text. Zum Ende der ersten Verhandlungswoche beim UN-Gipfel in Paris haben es die Klimadiplomaten geschafft, den Entwurf zum neuen Weltklimavertrag um ganze neun Seiten zu reduzieren. Trotzdem kann man mit dem Ergebnis noch nichts anfangen: Zwei Drittel der bedruckten Seiten bestehen aus Optionen, also Streitpunkten.

Da ist zunächst das Ziel der Verhandlungen: Während die Industriestaaten sich auf ein Zwei-Grad-Ziel festgelegt haben, fordert die Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder ein 1,5-Grad-Ziel. »Die Verhandlungen kommen um diese Fragen nicht herum«, kündigt der gambische Umweltminister Pa Ousman Jarju an, der hart bleiben will: »Bei zwei Grad versinkt unsere Hauptstadt im Meer.«

Umweltstaatssekretär Jochen Flasbarth, der die deutsche Regierungsdelegation leitet, erklärte, das 1,5-Grad-Ziel solle im Vertragstext »aufscheinend« festgehalten werden. Diplomatendeutsch, das zeigt, wie es auf dem Verhandlungsparkett zugeht. Experten der Weltmeteorologie-Organisation hatten in Paris bezweifelt, dass das 1,5-Grad-Ziel überhaupt noch zu realisieren sei - weil bereits zu viele Treibhausgase produziert wurden.

Zweites Streitthema sind die Finanzen: Die Industriestaaten hatten auf der Klimakonferenz in Cancún 2010 versprochen, ab 2020 jährlich 100 Milliarden Dollar in den globalen Süden zu überweisen. Eine Art Ablasshandel: 80 Prozent der Treibhausgase stammen aus ihren Schloten. Leidtragende sind aber vor allem jene Staaten, die nichts zum Problem beigetragen haben.

Fünf Jahre nach dem Beschluss haben die Industriestaaten immer noch nicht klar gemacht, wie sie dieses Geld aufbringen wollen. Strittig ist jetzt sogar, welche Staaten einzahlen sollen. In Artikel 6 des geplanten Klimavertrags stehen bisher diese Formulierungsoptionen: »die Industriestaaten und andere entwickelte Länder«, »die Industriestaaten (und Staaten in ökonomischer Transformation)«, »Staaten, die dazu in der Lage sind«, »alle Staaten, die dazu in der Lage sind«.

Hinter dem Konflikt steckt die Klimarahmenkonvention von 1992: Laut Artikel 4 sind Staaten wie China, Brasilien, Mexiko oder Südafrika »Entwicklungsländer« und müssen deshalb keine Verpflichtungen beim Klimaschutz übernehmen. Die Schwellenländer fürchten, in die Pflicht genommen zu werden, wenn sie das Etikett »Entwicklungsland« verlieren.

Wie stark sich die Welt verändert hat, zeigt das damalige Entwicklungsland Katar, das 2013 weltweit das dritthöchste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hatte. »Es ist absurd, dass ein Land wie Griechenland zur Klimafinanzierung beitragen muss, während Katar noch Geld bekommen soll. Das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit«, sagt ein hochrangiger europäischer Diplomat.

Die Industriestaaten versuchen in Paris, die Definition von »Entwicklungsland« aufzubrechen: »China muss auch beim Klimaschutz Verantwortung übernehmen«, sagt Todd Stern, der Chefunterhändler der USA. Unterstützung kommt von den ärmsten Ländern: »Staaten wie China, Indien, Brasilien tragen mittlerweile selbst erheblich zum Problem bei, deshalb müssen sie sich auch an der Lösung beteiligen«, erklärte Bubu Pateh Jallow, einer der Chefunterhändler der LCD-Gruppe gegenüber »nd«.

Der Konferenzleiter, Frankreichs Außenminister Laurent Fabius, will spätestens am Samstag den Vertragsentwurf fertig bekommen. Es gebe bereits eine Art Brückentext, der noch 38 Seiten lang ist. Er soll eingearbeitet, weiter gekürzt und am Sonntag in alle Sprachen übersetzt werden, damit die Minister, die am Montag in Paris die Verhandlungsleitung übernehmen, die fälligen politischen Entscheidungen treffen können.

Dabei sind große Streitpunkte noch gar nicht auf dem Verhandlungsparkett angekommen. Die Staatengruppe V20 - »v« steht für »verwundbar« - und die Allianz der kleinen Inselstaaten drängen darauf, einen Mechanismus namens »Loss and Damage« in den Vertrag aufzunehmen. Der aus der Versicherungswirtschaft entlehnte Begriff steht für »Verluste und Schäden« durch den Klimawandel. Es geht um die Frage, wer dafür zahlt, wenn eine Insel im ansteigenden Meer verschwindet oder Gletscher wegtauen und damit die Trinkwasserversorgung einer Stadt wie Lima zerstört wird.

Für Washington ist diese Idee ein rotes Tuch: Die USA, wo Kaffeebecher aus Angst vor Klagen die Aufschrift »Vorsicht heiß« tragen müssen, fürchten eine Flut von Schadensersatzansprüchen.

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