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Waldumbau: Abschied von der Fichte
Der lange Weg zum Dauerwald: Wie der Forst im Erzgebirge robuster und vielfältiger gestaltet wird
Die Hoffnungsträgerin wird mit einem energischen Fußtritt auf den Weg geschickt. Beherzt sticht ein Waldarbeiter ein lanzettförmiges Werkzeug in die Erde. Er hebt ein schmales, konisches Stück Waldboden aus und platziert einen Setzling in dem Loch: eine kleine Weißtanne. Mit dem Absatz tritt er den Boden um das kaum fingerstarke Stämmchen fest – fertig. Es ist ein mühseliges Geschäft: Der Untergrund ist hart und steinig. An diesem Tag wird er trotzdem noch weitere 300 Weißtannen pflanzen. Pro Hektar werden 2500 Stück gesetzt. In den vergangenen 35 Jahren haben sie im Forstbezirk Eibenstock 2000 Hektar mit der Baumart bestückt – macht in Summe rund fünf Millionen Weißtannen.
Es gab Zeiten, da war der Baum im Erzgebirge allgegenwärtig. Im 16. Jahrhundert habe der sächsische Gebirgswald zu fast einem Drittel aus Weißtannen bestanden, sagt Johannes Riedel, der Leiter des Forstbezirks. Und es gab Zeiten, da war er fast verschwunden: »In ganz Sachsen hat man noch 2000 Stück gezählt.« Auch andere einst allgegenwärtige Baumarten waren praktisch nicht mehr vorhanden, Rotbuchen etwa oder Eichen. An den Hängen des Erzgebirges dominierte die Fichte: ein schnell wachsender Baum, dessen Holz vielseitig verwendet werden kann, der sehr robust ist und »jeden Fehler verzeiht«, wie Riedel formuliert – außer vielleicht den, in flächendeckender Monokultur angebaut zu werden.
Die fehlende Vielfalt im sächsischen Wald hat Gründe, die teils lange zurückreichen. Riedel hat ein Bild mitgebracht: die Reproduktion eines Details vom 1521 geweihten Bergaltar der St. Annenkirche in Annaberg-Buchholz. Das dem Maler Hans Hesse zugeschriebene Werk zeigt die Region auf dem Höhepunkt des »Berggeschreys«. Reiche Silberfunde und reger Bergbau brachten den Landesherren enormen Wohlstand und veränderten die Landschaft grundlegend. »Man konnte auf einmal von einem Berg zum anderen sehen«, sagt Riedel: »Der Wald war verschwunden.« Zahllose Bergwerksstollen mussten mit Holzbalken gesichert und Häuser in den neu entstehenden Städten gebaut werden; aus Buchenholz wurde Holzkohle zur Verhüttung des Erzes hergestellt. »Die Reste der Meiler finden wir heute noch im Boden«, sagt Riedel.
Die Folgen waren dramatisch. Als Kurfürst Friedrich August III. um 1800 den Forstfachmann Heinrich Cotta mit einer Waldinventur beauftragte, kam dieser zu einem ernüchternden Ergebnis: Es gab kaum noch Holz. In seinem Werk »Anweisung zum Waldbau« von 1817 entwickelte Cotta Strategien dagegen. Ein Rezept, das Riedel anführt: Zunächst werden Nadelbäume gesetzt, unter deren Dach in einem zweiten Schritt dann nach etlichen Jahrzehnten Laubbäume ergänzt werden. Das Ergebnis wäre ein Wald, in dem viele Baumarten unterschiedlichen Alters bunt gemischt nebeneinander wachsen – und der so gegen Schädlinge, Krankheiten und Widrigkeiten anderer Art gewappnet wäre. »Artenreiche Wälder sind stabiler«, sagt Riedel, »das Risiko von Totalausfällen ist viel geringer.«
Was in der Theorie sinnvoll klang, scheiterte in der Praxis immer wieder. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden riesige Flächen kahl geschlagen, weil Reparationen auch mit Holz beglichen wurden. Verbreitete bittere Armut führte zudem dazu, dass Gebirgsbewohner auch die verbliebenen Stubben rodeten und als Feuerholz verwendeten: »Es verschwand sämtliche Biomasse.« Wieder wurden Nadelbäume aufgeforstet – die wenige Jahrzehnte später nach dem nächsten Krieg erneut flächendeckend abgeholzt und wiederum durch Fichten und Kiefern ersetzt wurden.
Diese fielen dann, ebenso wie die dafür besonders anfälligen verbliebenen Weißtannen, in den 70er und 80er Jahren dem sauren Regen zum Opfer. Die gigantischen Brachflächen wurden erneut mit Fichten bestückt, über die seit dem Dürresommer 2018 schließlich der Borkenkäfer herfiel. Er verwandelte in weiten Teilen des Freistaats grünen Tann in Friedhöfe voller toter Stämme ohne Nadeln und Rinde, die gefällt wurden und riesige kahle Flächen zurückließen.
Auch dort, wo der Wald noch steht, geht es ihm nicht gut. 34 Prozent der Waldbäume in Sachsen weisen laut dem jüngsten Waldzustandsbericht für den Freistaat »deutliche Schädigungen« auf. Nur jeder fünfte ist wirklich gesund. Das ist in ökologischer Hinsicht verheerend. Schließlich sind Wälder wichtige Speicher für Kohlendioxid und Wasser. Es ist wirtschaftlich katastrophal, weil Holz ein wichtiger Roh- und Baustoff ist, der dem Wald idealerweise kontinuierlich in verträglichen Mengen entnommen werden sollte.
Und schließlich wirken sich Landschaften voller toter Bäume auch nachteilig auf das Seelenleben einer Nation aus, die wie kaum eine andere die Sehnsucht nach dem Wald kultiviert. Jahrzehntelang intonierten deutsche Männerchöre die Mendelssohn-Vertonung eines Gedichts von Joseph von Eichendorff: »Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben ...« Seit 2018 aber hätten der Text variiert werden müssen: »Wer hat dich, du toter Wald, abgeholzt ...«
Rund um Eibenstock wirkt der Wald noch intakt. »Überall ist es grün«, sagt Riedes, dessen Forstbezirk mit 26 000 Hektar Baumbestand zu den am dichtesten bewaldeten in Sachsen gehört. Oberflächlich betrachtet, dominiert noch immer die Fichte. Vom Borkenkäfer verursachte Kahlflächen gibt es nicht. Das sei »Käferscouts« zu danken, die man ständig im Wald habe patrouillieren lassen, um befallene Bäume möglichst früh zu erkennen und umgehend zu entfernen, sagt Riedel: Mit enormem Aufwand habe man dafür gesorgt, »dass der Käfer keine Chance hat.«
Gegen andere Widrigkeiten aber lässt sich die Fichte schlechter schützen – etwa gegen den Klimawandel. Der flach wurzelnde Baum braucht jährliche Regenmengen von 800 Litern je Quadratmeter und eine Durchschnittstemperatur von maximal acht Grad. Doch auch im Erzgebirge wird es immer trockener. Seit 2018 hat sich ein Wasserdefizit in Höhe eines kompletten Jahresniederschlags aufgebaut. Schnee, der für die Neubildung von Grundwasser essenziell ist, habe es in vielen Lagen »schon jahrelang nicht mehr ernsthaft gegeben«, sagt Riedel. Auch die Temperaturen steigen immer weiter an: »Seit 20 Jahren ist fast jeder Sommer wärmer.« Das sind keine guten Aussichten für den Baum, der den Forstleuten jahrzehntelang ein gutes Auskommen sicherte und das Bild des Waldes über Generationen hinweg prägte. »Die Fichte«, prognostiziert Riedel, »wird sich in höhere Lagen zurückziehen und mittelfristig verschwinden.«
Der Forstmann ist freilich überzeugt, dass es für den Erzgebirgswald auch ein Leben nach der Fichte gibt. Das Rezept dafür lautet: zurück zu den Wurzeln, zu einer Waldgesellschaft nämlich, wie es sie in Teilen schon vor 500 Jahren gab. Unter dem Dach eines Waldes, der noch immer zu 86 Prozent aus Fichten besteht, aber in den vergangenen Jahrzehnten durch Einschlag immer mehr gelichtet wurde, wächst auf einer zweiten, darunter liegenden Etage bereits ein Wald heran, der von deutlich mehr Vielfalt geprägt ist: mit Rotbuchen, Weißtannen und zahlreichen anderen Baumarten.
Es gebe im Wald um Eibenstock mittlerweile keine Stelle, an der man »nicht mindestens zehn Baumarten im Blickfeld hat«, sagt Ulrich Escher, Leiter des Staatsforstbetriebs im Forstbezirk Eibenstock. Insgesamt siedle man in den Wäldern der Region 26 Baumarten an – mehr, als die meisten Besucher der Gegend wohl aus dem Stegreif aufzählen könnten. Durch die neue Vielfalt, so die Hoffnung der Forstleute, ist der Wald in einigen Jahrzehnten auch gegen Einflüsse und Entwicklungen gefeit, die sich heute nur erahnen lassen. »Wir brauchen so viele Arten wie möglich«, sagt Riedel: »Irgendeine kommt schon durch.«
Beim großen Waldumbau lassen sich die Forstleute teilweise von der Natur helfen. Auf einer Fläche oberhalb der Talsperre Eibenstock hat 2007 der Orkan Kyrill gewütet. Inzwischen stehen dort übermannshohe Ebereschen, Weiden und Birken. Deren Samen hat der Wind angeweht. Auch bei der Ansiedlung von Eichen, die Wärme besser vertragen als Fichten und künftig auch in früher unerreichten Höhenlagen von bis zu 800 Metern gedeihen dürften, lasse man sich unter die Arme greifen, sagt Thomas Poschen, Leiter des Reviers Hundhübel. Man sammle Eicheln, die auf einer in den 1980er Jahren angelegten Versuchsfläche reifen, und platziere diese in offenen Holzkästen. Daran bedienen sich Eichelhäher, die die Früchte dann im Wald verteilen. »Wir arbeiten mit der Natur und nicht gegen sie«, sagt Poschen.
Dennoch kostet der Umbau unendlich viel Mühe und verschlingt nicht unerhebliche Mittel. Neben den Weißtannen werden auch Buchen gepflanzt, deren Samen weder von Vögeln noch vom Wind weit weggetragen werden und die deshalb eine sehr geringe natürliche Ausbreitungsgeschwindigkeit haben. Zeitweise wurden eine Million Setzlinge im Jahr in die Erde gebracht.
An anderen Stellen werden die Buchen angesät, wofür der Boden mühsam aufgekratzt werden muss. Auf diese Weise »keimen Bäume dort, wo sie sich am wohlsten fühlen«, sagt Ulrich Escher: »So entstehen wesentlich robustere Pflanzen.« Eine nicht zu unterschätzende Tätigkeit ist die Jagd. Eibenstock war in der DDR ein Staatsjagdgebiet. Die Population an Rothirschen wurde künstlich derart aufgebläht, dass es flächendeckend zu enormen Schäden durch Verbiss kam. Seit 1990 werden die Wildbestände konsequent reguliert – mit wohltuenden Folgen für den Wald: Weißtannen und Buchen haben auch ohne teure Zäune gute Chancen, groß zu werden.
Vielleicht, sagt Johannes Riedel, wird seine Arbeit irgendwann überflüssig. Er und seine Kollegen hätten sich im Forstbezirk Eibenstock auf den »Weg zum Dauerwald« gemacht: einem Bergmischwald nach historischem Vorbild, in dem viele verschiedene Bäume unterschiedlichsten Alters stehen und sich von allein vermehren. Die Eingriffe der Forstleute würden sich dann auf die Bejagung und die »natürliche Verjüngung«, sprich: das Fällen von Bäumen beschränken.
Riedel selbst weiß freilich, dass er das nicht mehr erleben wird: »Das dauert noch 150 Jahre.« Also ungefähr so lange, wie die an diesem Tag mit ein paar Fußtritten auf den Weg gebrachte kleine Weißtanne benötigen wird, bis sie zu einem stolzen Baum mit einem halben Meter Stammdurchmesser herangewachsen und damit »erntereif« sein wird.
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