Elpida und Evangelia

Martin Leidenfrost erinnerte sich in Zypern daran, wozu die EU fähig ist

  • Lesedauer: 4 Min.

Weil wir nach zweieinhalb Jahren schon vergessen haben, wozu die EU fähig ist, fliege ich nach Zypern. In der Nacht des 1. März 2013 enteignete die Eurogruppe zum ersten Mal europäische Sparer, Kunden der Laiki Bank verloren alle Einlagen über 100 000 Euro. Für diesen präzedenzlosen Eingriff hatte man besonders das deutsche Publikum massiert, ein lancierter BND-Bericht hatte die Summen russischen Schwarzgeldes auf zypriotischen Banken überzeichnet. Insider zogen ihr Geld rechtzeitig ab, die Ahnungslosen wurden enteignet, Zypern war gerettet.

Ich fliege von Brüssel nach Zypern. Die Insel liegt weit entfernt, kurz vor Syrien. Von Larnaka landeinwärts sehe ich eine aride Halbwüste, geborstenes schmutzigweißes Gestein, lichte Schwaden eines staubigen Nebels. Zypern ist das einzige EU-Land, aus welchem abgesandte Kommissare abends nicht in ihr Brüsseler Bettchen zurückkehren können; vier Stunden Flug.

Ich gehe in Nikosia zu einem Anwalt, der beim Europäischen Gerichtshof klagen will. Vor der Altbauvilla wartet ein alter Mann, klein und hager. Durch seine Hände gleitet ein Kettchen mit Kügelchen dran, Kompoloi genannt. Ich begreife nicht gleich, dass der ernste Alte auf mich wartet. Der Anwalt hat ihn als Interviewpartner ausgewählt, weil seine Geschichte ungewöhnlichen hart ist: Seine kleinen Enkelinnen wurden von gleich zwei Katastrophen der zypriotischen Geschichte geschlagen.

Ich spreche mit Anwalt Michael Ioannides. Ein hagerer gehetzter Typ, der mir mit stechend schwarzen Augen die Dramatik von 2013 beschreibt: »Das war nicht wie Portugal. In Zypern wurde das Gespenst der türkischen Aggression wachgerufen. Der Druck war so groß, als ginge es um den Untergang Zyperns.« Er schätzt die Zahl der enteigneten Laiki-Kunden auf 8000; 2000 klagten bei Zyperns höchstem Gericht und wurden ans Zivilgericht verwiesen. Die Klage in Luxemburg – auf Basis eines Artikels gegen Diskriminierung – ist noch nicht eingereicht, »weil diese Leute jetzt arm sind«. Sie verloren 3,5 Milliarden Euro. Ich darf nicht schreiben, wieviele der Enteigneten seine Klienten sind. Es sind sehr viele. Er glaubt, es gäbe in der Geschichte kein Beispiel, wo nichts zurückgezahlt wurde: »Es sei denn, wir leben in einer anderen Welt.«

Im Besprechungsraum Neoklis Neokleous, 61. Das Kompoloi-Kettchen, das er selten weglegt, hat er seit 20 Jahren. »Ich verkaufe meine Uhr und kaufe mir ein Kompoloi«, zitiert er ein griechisches Lied, »um meine Erwartungen und Leiden zu zählen«. Er fügt hinzu: »Bei mir sind es Leiden. Zuviele Leiden.« Elpida war vier Jahre alt und Evangelia anderthalb, als ihre Eltern für fünf Urlaubstage nach Prag flogen. Die Mädchen waren bei ihren Großeltern. Der 14. August 2005 war ein Sonntagmorgen. Nach dem Kirchgang rief ihn ein Freund an: »Ein Flugzeug ist abgestürzt.« Was seither »Helios Air Crash« heißt, hat kein Passagier überlebt. Die Mädchen, die Neokleous »Babys« nennt, blieben bei den Großeltern. Nach zwei Jahren Rechtsstreit zahlte Boeing der Familie eine Entschädigung von 1,2 Millionen Zypernpfund aus. Das Geld musste für die Waisen angelegt werden, Laiki bot die besten Zinsen. Neokleous war zu stolz, die Entschädigung anzurühren, »ich zahlte alles aus eigener Tasche«. 2009 schrumpfte die Summe wegen einer Fehlinvestition der Bank. 2013 hatten beide Mädchen noch 670 000 Euro auf der Bank. Der 1. März 2013 war ein Freitag. Am Abend erfuhr Neokleous aus dem Fernsehen, dass nur noch 100 000 übrig waren. »Der Vorschlag, dass alle zahlen, ging im Parlament nicht durch. Also haben sie es von den Babys genommen. Das ist Europa.«

Als Polizist ist er schon elf Jahre pensioniert, seine Frau kann als Hebamme gut mit Kindern, und doch hat er »das Gefühl, dass ich gescheitert bin«. Die Waisen weinen fast jede Nacht. Sie weinen, wenn die Lehrerin einen Aufsatz über Mama aufgibt. Sie haben Aggressionen, auch nach zehn Jahren beim Psychologen. Die Ältere will abschließen, die Jüngere schließt sich zu Hause ein und will Anwältin werden. Ihr Opa sagt: »Dieses Geld steht für zwei Leben, die zwei Mal genommen wurden.«

Ich frage den bitteren Alten, ob er für den Beitritt Zyperns zur EU gestimmt hat. Er sagt ja, »ich glaube an Europa«. Dann bringt ihn ein Taxi nach Hause nach Limassol. Was soll man sagen. Merkel stand vor einer Bundestagswahl, Zypern ist weit weg, die Babys hatten Pech. Und wir haben schon vergessen, wozu die EU fähig ist.

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