Als würde ein Stein zum Altar

Kleists »Penthesilea« grandios am Schauspiel Frankfurt am Main. In der Titelrolle: Constanze Becker

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.
Man kann an dieser Schauspielerin so unheimlich gebannt sehen, was Grazie ist: eine unbewusst, ungesteuert gelebte Unvollkommenheit. Hier gibt sie, im eng geschnürten gelben Kleid, eine Königin des Schmerzes.

Die Welt ist wirklich der Gipfel. So elend niederwärts gebaut. Ganz oben die Todeszone, aber ganz unten findet deshalb noch lange nicht Leben statt. Olaf Altmann hat einen unverschämt steil ansteigenden Kegel auf die Bühne des Schauspielhauses in Frankfurt am Main bauen lassen. Penthesilea, halb nackt, hockt am höchsten Punkt, über sich keinen Himmel - dies Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann. Sie hat den toten blutigen Achill in ihrem Schoß, er wird gleich herabrollen wie ein Stück Fels. Ganz nackt. Und sich mühsam aufrichten - ins Wort, das die ungeheuerliche Geschichte erzählt. Vom Ende her. Als könne Erinnerung die Tragödien widerrufen.

Michael Thalheimer inszenierte »Penthesilea« von Heinrich von Kleist (Kostüme: Nehle Balkhausen). Ein einzigartiges, hochstolz strenges Schauspiel-Erlebnis. Sprache, als forme ein Stein, der erschlägt, sich plötzlich selber zum Altar um, vor dem man erschüttert, freilich ungetröstet, knien darf. Sprache wie eine Axt, die aber fähig ist, aus gröbster Welt ein feines Spinnwebgeflecht mit Tautropfen zu schlagen.

Penthesilea, die Amazonin, trifft auf Achill, den Griechen. Feindesliebe. Aber sie kann nicht lieben, sie kann nur besiegen - das ist der Orgasmus der Ideologen. Er liebt ebenfalls und behauptet also, trotz seines Sieges über sie: Er sei von ihr besiegt worden. Sie erfährt von der Lüge. Da fordert er erneut den Kampf: Jetzt wird er sich wirklich besiegen lassen, denn er liebt wirklich. Daraufhin rast ihre Hassliebe, ihr verletztes Herrscherinnengemüt, sie lässt den Geliebten von Hunden zerreißen. Auch ihre eigenen Zähne schlägt Penthesilea ins andere Fleisch. Und tötet sich selbst. Das Unbegreifliche ist immer das Logische. Eros und Tod sind die Urgestalten der Dialektik. Ich gebe dir mein Wort: Wort, Mord. Nichts findet in ein menschliches Maß. Wildheit lässt verwildern. Freundlichkeit wird bestraft. Alles Sehnende endet geschlachtet. Selbstbewusstsein vollendet sich in der Untat. Zuneigung beißt zu. Über Hautnähe freuen sich einzig die Schwerter, die zustoßen, und die Pfeile, die zum Hals schwirren. Das Welträtsel. Das Gen im Menschen. Blut stets nur wie Maschinenöl - das Rad der Geschichte muss rollen. Muss überrollen.

Constanze Becker. Sie war hier in Frankfurt Antigone, Medea, am Deutschen Theater in Berlin Klytaimestra. In ihrem Gesicht lauert eine Kraft, die um nichts bittet, eine Scheu, die dich geradezu schamlos anschaut. Sie spielt wie kaum eine Zweite, dass es immer die Angst ist, die den Menschen treibt. Hochtreibt ins Maßlose, wegtreibt von sich selber, hintreibt - auf Schlachtfelder. Wo er sich das Herz austreibt, sich die Liebe abtreibt, dies ewige Frühchen in einer Welt, in der fortwährend alles zu spät ist. Das Gefühl, höllisch verflucht zu sein, könnte diese Schauspielkünstlerin noch in jedes Paradies übertragen. Dann wieder kann sie schauen, dass jede Blume, die in dieses Blickfeld geriete, noch schneller und heiterer wüchse. Oder als sei da ein Schmetterling, der beschwingt durch eine leere, kalte Aussegnungshalle fliegt.

Man kann an Constanze Becker so unheimlich gebannt sehen, was Grazie ist: eine unbewusst, ungesteuert gelebte Unvollkommenheit. Hier gibt sie, im eng geschnürten gelben Kleid, eine Königin des Schmerzes. Gehetzte Blicke, raubtierkatzige Witterung und Unruhe. Da sind Reflexe einer plötzlich von Liebe überrumpelten Kreatur, die an Kaspar Hauser erinnern. Wie fern da ein Mensch von sich selber lebt, welche Universen zwischen funktionalem Ich und wirklichem Ich liegen. Unvergleichlich, wie die Becker im Energierausch ihre Hände hochreißt: Fangarme, die das Höhere anflehen; und stemmt sie die Arme auf den Boden, kriecht ein Reptil in den Angriff hinein. Das Anziehende und Abstoßende: eine entsetzlich peinigende, verblüffend natürliche Gleichzeitigkeit. Plötzlich aber auch ein wunderschönes, ein herbschönes Gesicht. In den Armen der Kannibalin liegt der Grieche wie ein totes Kind. Ein Anblick, als wolle aus Penthesilea das Käthchen von Heilbronn werden. Als wären Beton und Rose Zwillinge, beide brechen auf.

Felix Rech, der lockige Schlaks, ist der Ungestüme, aber auch der Sinnende, in dessen muskulöser Kerligkeit ein ungläubiges Staunen über das erwacht, was mit seinen Gefühlen geschieht. In diesem Achill ist ein Begehren, dessen Temperatur immer genügend Hitze abwirft, um nicht lange fackeln zu müssen, wenn die angegriffene Männlichkeit Terrain zurückerobern muss. Den bewegt, wie man Frau, aber so wenig Weib sein kann. Aber der wird mählich fähig zur Frage: »Was will ich?!« Das ist die Frage, die sich Helden eigentlich nie stellen. Weil es unwichtig ist. Wichtig ist, was die Welt will: Helden. Rechs Achill jedoch wird Antiheld, ein erschöpfungsbegabter, rückzugswilliger Arbeiter des Militärs. Als er erfährt, dass Penthesilea mit Hunden gegen ihn anrückt, spielt Rech eine ins Mark greifende Unsicherheit, Ungläubigkeit. Sie übergießt ihn mit Kunstblut, wieder Nacktheit also, und nun ein selig-poppiger Gesang. Wirkungsnerv der Regie, ohne dass einem je der Verdacht des Kalküls in den Sinn schleicht.

Er wie Sie: in eigener, dann in dritter Person von sich sprechend, schluchzend, schreiend. Zwei wie ein traumatischer Nachhall; wie ein Requiem, das schwer, wuchtig, weh und wund nach Ausdruck sucht. Ja, ein Requiem. Auf Existenz, die nie wirklich Leben sein durfte. Auf diesem Anstieg: Stampfen, schlingern, steigen, fallen, liegen, kriechen, die Blutspuren bilden die Landkarte einer Leib- und Seelenvernichtung. Und wo beide uns Zuschauern auf der Schräge näher und näher kommen, im Sturz, im Niedergang vom hohen Berge, uns näherkommen wie das Licht, das immer weniger die Szene, aber mehr und mehr uns im Saal erhellt, eine schimmerschmierige Belästigung geradezu - da wird das Lieben, nah vor unseren Augen, urplötzlich zur hemmungs- und haltlosen Verschlungenheit; das ist es, das Tier mit den vier Beinen, ein Rupfen und Reißen und Schmatzen und Zerfetzen. Zwei Körper wie ein Klumpen Fleisch - sehnendes Fleisch, das aufeinander zugreift und doch nicht wirklich eins werden kann. Wo Liebe ist, wird der Mensch von einer Macht niedergestreckt, über die er nicht herrscht, obwohl er diese Macht verkörpert. Einmal ist Achill nackt, hat aber noch eine Socke an. Auch so wird ein Mythos Mensch - und falsches Pathos ausgetrieben: mit Strumpf und Stil.

Trojaner, Griechen, Amazonen. Das Heeresgewirr, die Kräfte-Explosionen. Berichte. Hör-Spiel. So diamanten, aber schmucklos; so hart, aber herzheiß. Thalheimer konzentriert alle anderen Gestalten des Stückes in einer: Josephine Blatt, mit rotverschmierten Lippen, als fülle allein schon das Erzählen vom Kriege den Mund mit Blut; eine Frau gleichsam im Unterrock der ungeschminkten Alltäglichkeit, mit der kralligen Hand einer Mahnerin und Besorgten und Seherin, die aus dem Hexentrio der Macbeth-Welt stammen könnte.

Kleist: ein Unerbittlichkeitshagel, eine Dämonie, die Versöhnung nicht zulassen darf. Eine Dichtung übers zerschmetternd Elementare des Daseins, im Bündnis mit Thalheimers gespanntem, erhebendem Formwillen. Auf der Bühne Schweiß, Kraft, exzessives Mühen. Rutschen von der Weltpyramide, bebende Leiber, Blutschwappen. Diese Inszenierung reißt alle Vorhänge nieder, die uns von der hohen Versmeißelei trennen könnten; hier ist Gefühl, hier ist ein Flammen, hier waltet größter Schrecken. So ein Furor in der Bewegungslosigkeit. So ein Senkblei in den Hysterien. So ergreifend die Unfassbarkeit dieses Textes.

Penthesilea fällt in den Tod, die einzige Lösung, wenn man Kuss gnadenlos mit Biss gleichsetzt und also Hass und Liebe nicht wirklich auseinander halten kann. Diese letzten Verse vorm Sterben verwandeln diese unglaubliche Spielerin in ein Wahnsinnswesen halb geschlossener Augen. Als begänne gleich der Traum vom Leben, und als warte hinter der Auslöschung die schönste Möglichkeit: ein Menschensieg über den Sieg-Menschen.

Etwa hundert Minuten im Saal eine schier atemlose Stille, wie sie im Theater selten zu erleben ist. Und das in der Hustenzeit Herbst! Grandios! Bravo!

Nächste Vorstellungen: 26. Dezember, 6., 7. Januar

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