Das Haus der Weisheit

Wie das Morgenland antikes Wissen bewahrte und das Abendland beschenkte. Von Karlen Vesper

Es war einmal ... in Bagdad. Da sah man in einem palastähnlichen Haus alte und junge Männer, mit und ohne Bärte, mit Turban oder Kippa, über alte Handschriften gebeugt, tief in die Lektüre versunken. Mitunter stieß der eine oder andere einen leisen Schrei der Verzückung aus, um sich sodann eifrigst das eben Gelesene, unglaublich Spannende, unerhört Aufrührerische in die Kladde zu notieren. Der Federkiel huschte schnell über das Papier. Es galt, noch so viel zu studieren, zu verstehen, zu übersetzen.

Bait al-Hikma, das Haus der Weisheit, war ein Ort der Erleuchtung und Erkenntnis. Eine Art Akademie, im Jahre 825 vom Abbasiden-Kalifen al-Ma’mūn gegründet. An die hundert Gelehrte, Muslime, Christen und Juden, hat er aus seinem Reich und darüber hinaus zu sich gerufen und beglückt - nicht nur mit einer Festanstellung, sondern vor allem mit den von seinen Emissären allerorten aufgestöberten Werken der alten Griechen: Platon, Aristoteles, Ptolemäus, Euklid, Archimedes, Hippokrates ... Teils nur noch als Fragmente erhalten, bargen sie einen ungeheuren Schatz. Dass dieser nicht dem Vergessen anheim fiel, verdankt sich der Kärrnerarbeit der Männer im Bagdader Haus der Weisheit. Sie transkribierten nicht nur das antike Wissen ins Arabische, sondern ergänzten es um eigene Erkenntnisse. Papiermühlen rund um Bait al-Hikma belieferten sie mit ausreichend Schreibmaterial; Kopisten sowie Buchbinder sorgten für die rasche Vervielfältigung und Verewigung ihrer Arbeiten. Jahrhunderte später konnte das sogenannte Abendland die alle Wissensgebiete erfassenden Früchte der islamischen Renaissance ernten.

Algebra und Algorithmus beispielsweise leitet sich von den gleichnamigen Abhandlungen des Muammad ibn Mūsā al-Hwārizmī (um 780 - ca. 850) ab. Kalif al-Ma’mun hatte den an den Ufern des Aral-Sees geborenen Forscher in sein Haus der Weisheit eingeladen, um - wie al-Hwārizmī schrieb - »ein kurz gefasstes Werk zur Algebra zu verfassen, das sich auf die feinen und wichtigen Teile ihrer Berechnung beschränkt, so wie man sie ständig benötigt; im Falle von Erbschaften, Hinterlassenschaften, Aufteilungen, Gerichtsprozessen und im Handel, sowie in jeglichem Umgang miteinander oder wo es um das Vermessungswesen, das Graben von Kanälen, geometrischen Berechnungen und andere Dinge verschiedener Art und Weise geht«.

Seit der Islam im 7. Jahrhundert die verschiedenen arabischen Stämme zu vereinigen begann, blühten Handwerk und Handel und mit ihnen die Wissenschaften im Nahen und Mittleren Ostens wieder auf. In dem im Namen Allahs von der arabischen Feudal- und Handelsaristokratie eroberten, alsbald vom Indus bis Gibraltar reichenden Imperium stießen die Gelehrten auf die geistigen Hinterlassenschaften der antiken griechisch-römischen und der um Jahrhunderte älteren orientalischen Zivilisation, die sie neugierig und begierig aufgriffen. So übernahm al-Hwārizmī das Zahlen- und Rechensystem der alten Inder samt der Null. Von »arabischen Ziffern« zu sprechen ist ergo falsch; der Sinus hingegen war eine originär arabische Erfindung. In das früheste überlieferte Werk der islamischen Astronomie, gleichfalls aus der Feder von al-Hwārizmī, flossen Beobachtungen indischer wie griechischer »Sternengucker« ein. Sein »Buch über das Bild der Erde mit ihren Städten, Meeren und sämtlichen Inseln« lehnte sich an Ptolemäus’ »Geographike« an und korrigierte dessen Angaben, so hinsichtlich der Ausmaße des Mittelmeers, des Atlantiks und Indischen Ozeans. Al-Hwārizmī richtete zudem das erste Observatorium in Bagdad ein; ein solches entstand dann auch in Damaskus. Ernsthafte astronomische Forschung löste astrologische Weissagungen ab. Arabische Gelehrte begannen gar schon am geozentrischen Weltbild des Ptolemäus zu zweifeln, de facto das heliozentrisches des Kopernikus antizipierend.

Zwei Jahrzehnte nach dem Tod des großen al-Hwārizmī wurde im heutigen Afghanistan Abū Nasr al-Fārābī (lateinisiert: Alpharabius, 870 - 950) geboren. Er studierte in Bagdad Logik, lebte und arbeitete jedoch vor allem in Damaskus und Aleppo. Der »arabische Aristoteles«, wie er zuweilen genannt wurde und wird, hat mit seinem Buch »Über die Wissenschaften« sowie einer Abhandlung über Musik (arabisch: »Kitab al-musiqi«) Generationen morgen- und abendländischer Intellektueller beeindruckt. Ein Zeitgenosse von ihm war Ab dar-Rahman as-Sufi (Azophi, 903-986), dessen Bestseller im Orient und Okzident, das auf Ptolemäus und eigene Beobachtungen fußende »Buch der Fixsterne«, erstmals und fünf Jahrhunderte vor den mit Fernrohren ausgerüsteten europäischen Entdeckern die »Magellanschen Wolken« und den Andromedanebel beschrieb. Den Sternenatlas des Ptolemäus komplettierte auch der aus Basra (heute Irak) stammende und im Dar al-Ilm, dem in Kairo vom fatimidischen Kalifen al-Hākim gegründeten Haus der Wissenschaften, tätige Abu Ali al-Hasan ibn al-Heithem (965 - 1039). Als sein größtes Verdienst wird indes zumeist die bis dahin detaillierteste Beschreibung des Auges gewertet. Der Medizin wurde im arabischen Wissenschaftskanon besondere Aufmerksamkeit zuteil. Hunain ibn Ishaq (Johannitus, 808 - 873), ebenfalls im heutigen Südirak als Sohn eines Apothekers geboren, vermittelte seinen Schülern die Lehren des Hippokrates und des Galen von Pergamon. Er übersetzte Platons »Dialoge« und die »Physik« des Aristoteles. Die erste Übersetzung der »Elemente« des Euklids ins Arabische hatte bereits zuvor al-Haddschādsch ibn Yūsuf ibn Matar (gest. 833) besorgt.

Als Vater der islamischen Philosophie gilt Abū Ya’qūb ibn Ishāq al-Kindī (Alkindus, um 801 - 866). Er entstammte einer begüterten Familie in Kufa (heute Irak), studierte in Bagdad und arbeitete im dortigen Bait al-Hikma. Als Aufgabe des Philosophen definierte er die Wahrheitssuche, wissenschaftliche Erkenntnis stellte er über scholastische Spekulation. Al-Kindī war zugleich ein Pionier der Kryptologie, der Verschlüsselung und Entschlüsselung von Texten. Und obwohl er die Existenz Gottes nicht bestritt, urteilte er streng über den Koran; dieser habe keinen Stil und sei unlogisch, »ein kindlich-schwaches Machwerk«. Damit freilich galt er den Orthodoxen als Ketzer. Ebenso Abū Bakr ibn Zakarīyā ar-Rāzī (Rhazes, um 854-um 930), der den Predigern und Preisern des Korans vorhielt: »Sie sprechen über ein Buch, das alte Mythen aufzählt und voller Widersprüchlichkeiten ist und keine wertvollen Informationen oder Erklärungen beinhaltet.« Ar-Rāzī schwor dahingegen auf »das tausendjährige Wissen der Bücher« und Experimente als Quell der Erkenntnis. Über 200 Werke soll er verfasst haben, darunter über Alchemie und Ethik. In mehreren Auflagen und Sprachen erschienen seine Abhandlungen über die Heilkunst, die Leib und Seele als Einheit betrachtet, sowie über Pocken und Masern. Ar-Rāzī leitete in Bagdad ein Krankenhaus und sezierte unerschrocken Leichen, um Ursachen von Krankheiten zu ergründen. Von weit her eilten die Studenten zu ihm. Und doch starb er verarmt und vereinsamt. Iran ehrt ihn mit einem eigenen Gedenktag, den 27. August.

Die rasche Ausbreitung des Islam und das damit einhergehende Anwachsen der Pilgerscharen nach Mekka beförderten das Interesse an Erdkunde und Erdvermessung, exakten Karten und Wegbeschreibungen. Der in Bagdad geborene Abu al-Hasan al-Ma’sūdī (896 - 956), genannt der »muslimische Plinius«, durchquerte Asien und Europa. Er wollte so viele Länder und Völker wie möglich kennenlernen. Über die Europäer vermerkte er: »Der warme Humor fehlt ihnen; ihre Körper sind groß, ihr Charakter ist derb.« In seinem enzyklopädisch angelegten »Buch der goldenen Wiesen« befasste er sich mit der Erschaffung der Welt sowie der Menschheitsgeschichte und bündelte den geografischen, astronomischen, medizinischen und philosophischen Wissensstand seiner Zeit. Das letzte Lebensjahrzehnt verbrachte er in Damaskus und Kairo.

Der im Abendland wohl berühmteste muslimische Universalgelehrte war der aus Buchara (heute Usbekistan) stammende Abū Alī al-Husain ibn Sīnā (980 - 1037). Avicenna, so sein lateinischer Name, soll ebenfalls über 200 Werke zu den verschiedensten Wissensgebieten verfasst haben. Die Philosophie adelte er zur »Königin der Wissenschaften«. Er war der erste Gelehrte, der es wagte, Aristoteles zu kritisieren. Im Abendland wurde er aber vor allem als »Fürst der Ärzte« hoch geschätzt. Seine medizinischen Werke galten an Europas Universitäten als Grundlagenwerke. Am bekanntesten sind sein »Kompendium über die Seele«, das »Buch der Heilung« und das »Buch des Wissens«. Ibn Sīnā sinnierte über die Behandlung von Tuberkulose und Krebs, befasste sich bereits mit den Einflüssen der Umwelt auf Körper und Geist und widmete sich der Psychotherapie, war quasi ein arabischer Freud. Er praktizierte als Mediziner u. a. in Hamadan und Istfahan (Iran), war Leibarzt diverser Herrscher und zeitweilig von einem gar eingekerkert worden. In Hamadan, wo er im Alter von nur 57 Jahren starb, steht noch heute sein Mausoleum. Dante Alighieri setzte ihm in seiner »Göttlichen Komödie« ein Denkmal.

Arabische Gelehrte und Tüftler führten zudem die archimedische Tradition fort. Sie frappierten Zeitgenossen in Europa und inspirierten noch berühmte Nachfahren wie Leonardo da Vinci mit ihren mechanischen und hydraulischen Erfindungen, sei es für raffinierte Wasserspiele, Schachautomaten oder Kriegsgerät. Als besonders erfinderisch hinsichtlich Spielautomaten erwiesen sich die Gebrüder Mohammed, Achmed und Hasan Mūsā ibn Shākir, Söhne eines Straßenräubers, der sich mit dem jungen Herrschersohn al-Ma’mūn angefreundet hatte. Nach seinem Tod nahm dieser als nunmehriger Kalif die drei Jungen unter seine Fittiche und ließ sie im Haus der Weisheit ausbilden. Den Gebrüdern gelang u. a. die präziseste Messung des Erdumfangs seit Eratosthenes, dem langjährigen Leiter der legendären antiken Bibliothek von Alexandria.

Mit dem wachsenden Einfluss und Eifer der Glaubenswächter und dem Einfall der Seldschuken 1055 verdorrte das geistige Leben in Bagdad. Es erlosch gänzlich im Mongolensturm 1258, als Hülegü, ein Enkel Dschingis-Khans, die Stadt plünderte und unzählige Handschriften und Bücher aus dem Haus der Weisheit verbrennen ließ. Das Erbe von Bait al-Hikma trat die muslimisch-jüdisch-christliche Gelehrtengemeinschaft der Kalifate von Al-Andalus an.

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