Stimmfall statt Fußnote

Jetzt auf DVD: »Helmut Qualtinger liest ›Mein Kampf‹« - eine Entdämonisierung

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.

Auch wenn seit Jahresbeginn eine Neuauflage in Deutschland nicht mehr strafbar wäre, weil das bis dahin vom Freistaat Bayern verwaltete Urheberrecht erloschen ist - der Bann, der auf Hitlers »Mein Kampf« liegt, bleibt bestehen. Wenn nicht juristisch, so doch moralisch. Dieses Buch gilt weithin als das Teufelszeug, das es ist. Wer lesend mit ihm in Berührung kommt, so die Befürchtung, läuft Gefahr, von den Dämonen befallen und besessen zu werden, die zwischen den Buchdeckeln lauern.

Der Impuls, diese Schrift zu tabuisieren, ist nachvollziehbar. Er rührt aus der Vorstellung, dass es eben jene von Hitler beschworenen Geister sind, die dereinst von den Buchseiten in die Wirklichkeit gepeitscht wurden, um in der Welt ein Grauen ohne Vergleich anzurichten. Ein Grauen, dessen Wiederkehr jeder fühlende Mensch mit allen Kräften verhindern will. Die Angst derjenigen, die »Mein Kampf« am liebsten für alle Ewigkeit in den Giftschrank sperren würden, ist die Angst davor, dass das Gift darin noch immer wirkt. Und leider lehren die aktuellen Nachrichten des noch jungen Jahres 2016, dass diese Angst nicht unbegründet ist.

Kein Mensch wird seriösen und überaus redlichen Wissenschaftlern unterstellen, dem Geisterglauben verfallen zu sein. Aber letztlich erscheint auch die strenge Limitierung der historisch-kritischen Ausgabe des Hitler-Buches, die an diesem Freitag am Institut für Zeitgeschichte in München vorgestellt wird, als Versuch der sorgsamen Umhegung des Ungeheuers. 3700 Fußnoten, hört man, seien zur Erklärung und Analyse des Originaltextes erarbeitet worden. Fußnoten als Gitterstäbe, um die Bestie im Zaum zu halten?

Dabei gab es schon vor über 40 Jahren einen, der scheinbar unbefangen geradewegs ins Gehege der Buchseiten hineintapste - und die Käfigtür dabei auch noch sperrangelweit offen ließ. Der Wiener Schauspieler und Schriftsteller Helmut Qualtinger, seinem anarchischen Wesen und seinem Hauptberufe nach Kabarettist, hatte »Mein Kampf« nicht nur gründlich gelesen - 1973 las er zum ersten Mal auch öffentlich daraus vor: ohne Fußnoten, ohne voran-, dazwischen- oder nachgestellte Kommentare. Und er wiederholte diese Lesung fortan, trotz Schelte, immer wieder. Mit variierten Mitteln taten es ihm später andere gleich: Serdar Somuncu etwa, auch Ekkehard Schall.

»Helmut Qualtinger liest Mein Kampf« - eine Aufzeichnung des ORF aus dem prall gefüllten Audimax der Wiener Universität erscheint nun in der Filmedition Suhrkamp parallel zur kommentierten Ausgabe des Instituts für Zeitgeschichte. Im beigefügten Booklet ein Essay des Literaturkritikers Willi Winkler, darin von der »jahrzehntelang brav durchgespielten Dämonisierung des einst angebeteten Führers« die Rede ist, »die letztlich doch billiger kam als jede ernsthafte Auseinandersetzung mit der eigenen Verführbarkeit und dem Willen zur Machtteilhabe«.

Stattgefunden hatte die denkwürdige Veranstaltung, die auf der DVD dokumentiert ist, übrigens just am 8. Mai 1985, jenem Tag, an dem der damalige westdeutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Kriegsende 40 Jahre zuvor erstmals als Tag der Befreiung benannte.

Qualtinger also: sitzt vor rotem Vorhang an einem quadratischen Tischlein. Im runden Gesicht den dürftig gestutzten Rauschebart, am Leib ein braunes Sakko aus Cord. Vor ihm das Publikum in gespannter Erwartung. Prompt geht es los: Qualtinger liest. Sonst nichts. Aber dieses, Qualtingers Hitler-Lesen, braucht nur wenige Augenblicke, um dem Buch die Dämonen mindestens ebenso gründlich auszutreiben, wie man es einer kritischen Edition auf ihre, gänzlich andere Weise zutrauen mag.

Im Wiener Tonfall, dem das Gekränktsein wesenseigen ist, rezitiert dieser »denkende Sprechschauspieler« (Willi Winkler) die geschickt und übel kalkulierend zurechtgebogenen Lebenserinnerungen des werdenden Massen- und Völkermörders. Vom altklug dozierenden Stimmfall schnellt seine Rede plötzlich hoch in den hysterisch sich überschlagenden Agitationston des Propagandisten, um sogleich wieder in jenen wehleidig weinerlichen Singsang zu verfallen, der den Worten so offenkundig eingeschrieben ist. Man kann gar nicht anders, als beim Zuhören an Hannah Arendts Begriff von der »Banalität des Bösen« zu denken.

Später im Verlauf der Lesung, als Hitler längst wie entkleidet dasteht als ewig zu kurz Gekommener, komplexbeladener Rächer von nichts als seinem eigenen erbärmlichen Schicksal, knallt Qualtinger seinen Zuhörern brüllend den ganzen eitlen Stolz dieses einsamen Kämpfers entgegen, der bei seiner ersten öffentlichen Rede (vor 111 Personen!) endlich die gramvoll vermisste Bestätigung erfährt: »ICH KONNTE REDEN!«

Qualtinger macht Hitler lächerlich, ja, aber die Lächerlichkeit steckt in den Sätzen des Buches selbst. Er holt sie mit spärlicher Mimik und Gestik - mal schweift ein böser Blick ins Publikum, mal einer gen Himmel, mal geht die Faust kurz zur Schläfe, mal hackt der Zeigefinger kleine Dellen in die Holzfläche des Tischs - aufs Wirkmächtigste hervor. Und lässt so das befreiende Lachen schlagartig in ein gewaltiges Erschrecken krachen: Diesem Würstchen konnten die Massen verfallen? Dieser dreisten Selbstüberhöhung? Diesen immerfort aufs Dümmste einflochtenen Gleichsetzungen »niederer Menschen« mit Tieren? Dieser Küchenbiologie? Diesem triefenden Pathos? Diesem ewigen, mordlüsternen Zucht- und Kampfgeschrei? Dieser hanebüchenen Verachtung, die auf nichts anderes zielt als auf »ein furchtbares, hirnloses Reich, in dem im Grunde nichts anderes passiert, als dass junge Männer für den Krieg ausgebildet werden und man endlos frisches Kanonenfutter züchtet« (George Orwell)?

Ja, diesem Würstchen verfielen die Massen -, sobald es sich selbst zur Wurst aufgebläht hatte. In seinem Essay verweist Willi Winkler darauf, dass es nicht zuletzt Hitlers Selbstinszenierung als Verlierer ist, die zur Identifikation verführte. Eine Inszenierung als Verlierer, der stellvertretend zum Märtyrer zu werden verspricht, um sich und seinesgleichen zu rächen. Wie anziehend ein solches Märtyrertum immer noch ist, verdeutlichen nicht nur die Taten islamistischer Terroristen. Der US-amerikanische Schriftsteller und Literaturtheoretiker Kenneth Burke (1897-1993), dessen erstmals 1939 veröffentlichter Aufsatz zur »Rhetorik in Hitlers ›Mein Kampf‹« ebenfalls im Booklet abgedruckt ist, mahnt dazu, diesem Buch »große Aufmerksamkeit« zu widmen, denn es könne die Augen dafür öffnen, »wovor wir auf der Hut zu sein haben«. Eine Mahnung, die Gültigkeit behält.

Helmut Qualtinger, der im Jahr nach der Aufzeichnung starb, ging es bei seinen Lesungen wohl kaum darum, das Grauen schlicht in Klamauk zu verwandeln. »Ihn schauderte davor«, schreibt Winkler, dass die Leute dieses Buch »nur lächerlich fanden und nicht als erschreckend verführerisch erkannten«.

Helmut Qualtinger liest »Mein Kampf«. DVD 93 Minuten, Booklet mit einem Essay von Willi Winkler und einem Aufsatz von Kenneth Burke. Suhrkamp Filmedition/Absolut Medien, 14,90 €.

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