Die Haupt-Sache

Frank Castorf inszeniert »Judith« von Friedrich Hebbel an der Berliner Volksbühne

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Liebe! Sie will vollste Freiheit und sucht strengste Bindung. Das geht nicht wirklich zusammen. Nicht bei Paaren, nicht bei Patrioten. Da muss Kitt her - so kamen der Glauben in die Welt und das Gelöbnis. Das Weibliche und das Männliche - als Beispiel für Prinzipien, die die Welt und das Leben schaffen und es zugleich zum Kampffeld erklären. Liebe ist immer auch Besitz, Gewalt (und sei es in feinster Form). »Wir vernichten, was wir lieben«, schrieb Christa Wolf. Gilt das auch umgekehrt? Was ist, wenn wir just das zu lieben beginnen, was wir vernichten wollen? Judith, die Hebräerin, tötet den assyrischen König Holofernes, befreit so die jüdische Stadt Bethulien. Ein abgeschlagenes Haupt - nach einer nicht abgeschlagenen Liebesnacht. Den Kopf verdrehen, um ihn abzuschneiden.

Frank Castorf hat an der Berliner Volksbühne Friedrich Hebbels »Judith« inszeniert, im Raum von Bert Neumann. Birgit Minichmayr in der Titelrolle, Martin Wuttke ist der König. Castorf taucht uns in ein wahres Legenden-Boarding; man kann bald nur noch japsen unterm Ansturm der Wissenswellen rund um Geschichte und Geschichten aus Homs und anderer Wüstenei. Erzählungen von Latrinen-Toden und Wechseln von einem Gott zum anderen. Verehrungen und Verteufelungen. Nach fünf Stunden lexikalischem, theologischem, geschichtsschreiberischem Druck scheint gewiss: künftig kein IS-Bild, kein Syrienbericht, keine Flüchtlingsszene mehr im Fernsehen, ohne dass dir - mitten im Aktuellen - das verteufelt Sagenhafte und unentwirrbar Verwobene aus vorchristlichen Zeiten in den Sinn kommt. Verbunden vor allem mit der Stimme des wahrlichen Laut-Malers Mex Schlüpfer, des beeindruckenden Dröhn-Dragoners der Volksbühne, der diesmal ein fast verängstigtes, augenaufgerissenes, mythisch aufgeladenes Gesicht zeigt, und der beschwörend eindringlich wird, als käme er selber aus jenem Palmyra, dessen Bilder auf der Leinwand aufleuchten.

Hoch aufgereizt, dieser Abend. Entnervend texttrocken. Überbordend im Eifer, jede Metapher in eine Metastase zu wandeln - für das Wuchern des Immergleichen: Das Harte, Böse, Hässliche des Castorf-Theaters besteht darin, uns den Kopf mit peinigenden Wahrheiten zu beschießen, die kein System abschafft. Unversöhnlichkeiten, Hass, Geschlechterkampf. Uns sind Ambivalenzen eingeschrieben, die kein Gott, keine Ethikanstrengung, kein Sozialwerk aus uns herausreißt.

Castorf zeigt Menschen in der Überforderung - weil absurde Ursachen für politisches, geschichtliches Elend auch nur immer absurde Folgen haben können. Auf jeder Krim der Erde. In jedem Syrien dieses Planeten. In jedem Hysteriekino nach Kölner Art. An jeder Obergrenze dieser Unterwelt Europa. »Wir können nicht menschlich sein, ohne in uns die Fähigkeit zur Gemeinheit wahrgenommen zu haben.« Die Schöpfungsmitgift. George Bataille. Ein Gewährsmann Castorfs - der sich an diesem Abend aber vor allem bei Antonin Artaud bedient und bei jenem hämmernden »Auftrag«, mit dem Heiner Müller zum Aufstand für die »Neger aller Rassen« rief. Hier mit Jasna Fritzi Bauers Stimme, der Dienerin Judiths: einer Stimme aus trauriger Scheu, gehöriger Verzweiflung und skeptischer Zartheit.

Castorf presst den vielköpfigen Chor der Hebräer, des geknechteten Volks, dem Judith Freiheit bringen will, in die drei Zelte am lamettasträhnigen linken Seitenrand des großen Raumes. Er lässt diese Zelte verbarrikadieren mit jenen riesigen Sitzkissen, die sich in der Mitte der Bühne zum Haufen stapeln, ein weiches komisches Faltengebirge, hinter dem dauernder Nebel aufsteigt. Bühne? Es ist der Zuschauerraum, in dem gespielt wird; das Publikum sitzt auf der eigentlichen Bühnenfläche. Die es eigentlich nicht mehr gibt im asphaltierten Innengelände Volksbühne. Alles plan und leicht ansteigend. Ein Wasserbecken trennt uns vom Spielgeviert. Die Hebräer in den Zelten, zwischen händeringendem Flehen miteinander und steinigender Dumpfheit gegeneinander, hauen sich bebend Baudrillard-Texte an die Köpfe, sie tanzen, sie toben sich - hinterm Rotflackern der Zeltwände, erfasst von der wieder virtuos, malerisch, expressiv eingesetzten Videokamera von Andreas Deinert - in einen Rausch. Die Wirklichkeit wegkiffen. So, wie wir unseren täglichen Krisen-Rausch pflegen. Diesen Rausch, eifrig weltkritisch zu sein, besserwisserisch das Zepter zu schwingen, aber treu jene kleinformatigen Verhältnisse zu leben, denen aller sinnstiftender Überbaugedanke längst abgesaugt wurde. Man hat die Wut, man protestiert, man lügt sich das Gemüt schön voll mit fortwährend kritischen Kommentaren, Plänen B und anderen Endlosrollen Programmpapier - das alles unter abgestandenem Weltanschauungsdampf, der schnell verfliegt, so schnell, wie die Leute nischenwärts fliehen, wenn sie nach Maßgabe der Seminaristen wieder Klasse oder revolutionäres Subjekt sein sollen. Was tun! Ja! Aber der Sand, der ins Getriebe gehört, rinnt durch Finger, die von der Faust träumen. Und die doch nur das Fäustchen sind, in das sich die Wirklichkeit lacht. Die zum Heulen bleibt.

Wieder also ein lebender Essay. Schauspieler sind dessen tanzende, unberechenbar flirrende, springende, hechelnde, brüllende Buchstaben - die auf alles kommen, nur nicht auf den Punkt. Es herrscht eine Dramaturgie der umtriebigen Weltbedenkerei, die im Trieb eine Quelle hat und die den Trieb zugleich mit Geist quält. In diesem Theater tauchen die Partikel traurigen, unkorrekten Denkens auf wie zerbrochene Teile eines Mobiliars, das aus scheinbar gesicherten Gedankengebäuden gespült wurde - einmal hochgeschwemmt, leuchten die Zitate auf, dann werden sie wieder untergespült, in die Strömung gezogen, weiter zermalmt. Wie unser Auffassungsvermögen.

Martin Wuttke. Die Knallhärte seiner Vokale. Die Schraubkunst seines zäh und zapplig vibrierenden Körpers. Das Schmerzweiche seiner lächelnden, lauernden, lüsternen Zuwendungen. Diese tragische Verlorenheit, die doch immer an den Clown gefesselt bleibt. Bei diesem Schauspieler, mit Nasenring und Glatzenzopf, trifft Arturo Ui auf Marlon Brandos Colonel Kurtz; Louis de Funès mutiert zu Gollum aus dem »Hobbit«-Märchen. Wuttke wuselt, rennt, fläzt, kaspert, kreischt, rennt die Metalltreppe hoch in den Rang, wo unterm Neonleuchten (»Coca Cola« kyrillisch) mehrere Henry-Hübchen-Puppen legendäre Volksbühnen-Vergangenheiten assoziieren. Wuttke spielt Einsamkeitsekstase. Ein geräuschloses Surren der Antriebsnerven. Die furchtschwitzende Seele eines nahezu autistischen Klumpens Mensch, der mit seinem eigenen abgeschlagenen Kopf herumrennt. Einem Spielball. Schuss! Tor!

Birgit Minichmayr: der Kontrast. Tiefer Ernst, fast Getragenheit, ein konzentriert rumorendes Hirn. Sagenhaft diese Blicke in die Kamera, die Augenwinkel sind der Sitz aller List und Lust und lasziven Eisigkeit. Das Leidende in einem Charakter, die Unweigerlichkeit eines Naturells, die Unerklärbarkeit einer entschiedenen Seelenkraft und eine gedeihliche Portion Geilheit - das ist Judith; alle Himmelfahrten und Höllenstürze des Gefühls haben in dieser Krächz- und Raunensgestalt eine faszinierende Chance.

Grandios die Begegnung zwischen Judith und Holofernes. Auf der Leinwand der Tanz zweier Glitzergold-Gaukler. Versunken, verkitscht. Castorf grinst Entrückung. Auch die Mordszene findet per Video statt. Es wummert »The Power of Love«. Frankie goes to Hollywood. Judith und ihre Dienerin Mirza hocken auf dem besoffen grölenden Pornoglotzer Holofernes, ersticken ihn reitend, hüpfend, als sei er ein Trampolin. Und natürlich lebt Holofernes, trotz Enthauptung. Warum, offenbart ein über die Bühne trottendes leibhaftiges Kamel: Die Karawane zieht weiter.

Hoffnung? Für Castorf eine Form des Selbstbetruges. Worauf wäre gesichert zu hoffen - angesichts einer Welt, in der nicht ausgemacht ist, dass etwas gut ausgehen müsse. Schon gar nicht in einer Demokratie - wo die Feigheit am wenigsten zu befürchten hat. »Das Schlimme ist nicht immer möglich«, heißt es in der Aufführung, und in dieser schönen Feststellung liegt schon alle - Zuversicht.

Nächste Vorstellungen: 28.1, 12., 20.2.

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