Mensch Merkel
Sollte Deutschland seine Grenzen dichtmachen? Was wäre das für ein Deutschland? Was wäre das für ein Europa?
Wir werden, wir sollen, wir können das schaffen! Aber was können wir schaffen? Abertausende von Flüchtlingen aufnehmen, versorgen, integrieren. Was brauchen wir dazu? Ein entschlossenes, ein zuversichtliches Wir, das durch die politischen Repräsentanten an der Spitze demokratisch geführt, durch das Parlament unterstützt und von einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger gestützt wird. Ein Wir, das von Medien positiv, aber nicht unkritisch begleitet, von Gewerkschaften solidarisch mitgetragen, von der Wirtschaft innovativ aufgegriffen, von den Kirchen weltoffen, barmherzig und vorurteilsfrei angenommen und geistig-moralisch flankiert wird.
Jedes Handeln bedarf der Legitimation durch für alle geltende Grundrechte und die daraus resultierenden einzelnen Rechte und Pflichten. Einerseits das Ziel klar im Auge, braucht alle Entscheidung zugleich ein Augenmaß, das sich den konkreten Möglichkeiten und objektiven Grenzen justierend stellt - zusammen mit allen Initiativen, die aus ganz persönlicher Motivation heraus helfen, wo staatliche Institutionen überfordert sind oder zu lange brauchen. Wir stehen miteinander vor einer langfristigen Herkulesaufgabe.
Es wäre kontraproduktiv, wenn man nun Denkverbote erteilen wollte oder Probleme durch Wegreden zu lösen versuchte. Nach Zumutbarkeit und Belastungsgrenzen zu fragen, ist zunächst nicht unstatthaft. Doch was tun, wenn die »Stimmung« kippt, wenn populistisch »argumentiert« wird, wenn fremdenfeindlich gehetzt, angstschürend geredet, gedruckt, gebrüllt wird, bis geplante Unterkünfte brennen? Dann sind alle demokratisch gesinnten BürgerInnen herausgefordert, öffentlich gegenzuhalten: sachbezogen, empathisch, engagiert in eigenem Auftrag. Unverzüglich.
Unsere Gesetze, zumal das Grundgesetz, gelten für alle in gleicher Weise. Angesichts der rechtspopulistischen Nebelkerzen aus CSU, Teilen der CDU und der AfD muss das in Erinnerung gerufen werden: Das Grundrecht auf Asyl ist ein einklagbares Menschenrecht. Dies gilt auch für die Genfer Flüchtlingskonvention, die die Bundesrepublik unterzeichnet hat. Unser Staat hat sich zu den darin enthaltenen Versprechen bekannt. Deshalb sind diese Rechte nicht begrenzbar. Das wissen auch diejenigen, die über Obergrenzen oder flexible Tageskontingente für Flüchtlinge schwadronieren. Das Grundrecht auf Asyl gilt unbedingt für alle, bei denen die im Gesetz genannten Bedingungen gegeben sind. Sicher, wer dieses Grundrecht missbraucht, weil er Straftaten begeht, dem kann dieses elementare Recht entzogen werden. Aber nicht an der Grenze, in Hotspots oder sonstigen Sammelstellen, sondern nur nach einer Verurteilung durch eines unserer Gerichte.
Die Bundeskanzlerin, die bisher eher durch Abwarten, Moderieren, Aussitzen aufgefallen war, hat sich festgelegt und bleibt bei ihrer Auffassung, nicht stur, nur konsequent. In diesem Sinne ist sie eine Verfassungspatriotin; sie verteidigt die Grundrechte. In welchem geistig-politischen Zustand ist unser Land, dass sie dafür angefeindet wird? Sie riskiert ihre Kanzlerschaft - nicht um irgendeines Vorteiles für sich oder für ihre Partei. Sie versagt es sich standhaft, auf populistische Parolen und Stimmungen einzugehen, auf rechtslastige Züge aufzuspringen. Sie tritt selbst politischen Freunden aus Überzeugung klar entgegen: mutig, ruhig, ihrer Sache gewiss und unbeirrt.
Angela Merkel hat sich im Spätsommer des vorigen Jahres durch das Flüchtlingselend aus Syrien menschlich anrühren lassen. Dabei hat sie spontan bürokratische Hürden übersprungen, hat die nach geltendem Recht erforderlichen Vorbedingungen für die Einreise und Aufnahme übergangen. Ist das nun Rechtsbruch von höchster Stelle - oder ist das praktizierte Mitmenschlichkeit? Wahrscheinlich hat es viele im Bürgerkrieg Zermarterte angelockt, schnell nach Germany zu kommen.
Es gibt Situationen, in denen Politiker aus menschlichen Gründen schnell handeln müssen, ohne zögerlich zu fragen, ob wer wie (in anderen Staaten der einen EU) mitmachen würde. Die Konsequenzen für dieses Handeln, das auf eine breite Willkommenskultur baut, haben wir alle zu tragen, nachdem Deutschland bis dato wenige Verbündete gefunden hat und die EU nunmehr vor einer in ihren Konsequenzen noch ganz ungewissen Zerreißprobe (auch für Schengen und den Euro) steht. Es rächt sich, dass Deutschland in den letzten Jahren auch als wirtschaftlich auftrumpfender Lehrmeister Europas aufgetreten ist.
Angela Merkel riskiert viel. Sie hat im Blick, wie viele Flüchtlinge andere, auch sehr arme Länder wie Libanon oder Jordanien (und auch die Türkei) bereits aufgenommen haben und was das gebeutelte Griechenland schultert. Wer »dort unten« nicht hilft, wird für eine künftig noch schwerer steuerbare Völkerwanderung mitverantwortlich werden. Der Vorwurf deutscher Alleingänge trifft nicht, weil dieser »Alleingang« ein Wort für Humanität und Mitgefühl geworden ist. Durch solche Alleingänge hatten sich die Deutschen in ihrer Geschichte bisher gerade nicht ausgezeichnet. Der wiedererstandenen Furie des Nationalismus wollen wir Europäer nach den Erfahrungen in unserer Geschichte keinen Millimeter weichen.
Hoffentlich schaffen wir das. Wir alle. Und verteidigen unsere Werte. Es bleibe Glaube, Hoffnung, Liebe. Diese drei. Die Parole der friedlichen Selbstbefreiung in der DDR, »Wir sind das Volk«, war eine Befreiungsparole. Sie richtete sich gegen die Grenzen, sie richtete sich gegen jeden Egoismus und Nationalismus. Jedenfalls hatte sie nie im Sinne, dass »Ihr«, die in unser Land in Lebensangst Geflohenen, nicht dazugehört. Der Verweis auf die Zumutbarkeit der Zuwanderungsströme kann in der Debatte nicht das Hauptwort sein, aber es ist ein nicht zu vernachlässigendes Nebenwort. Hören wir auf die Hilferufe von Landräten und Bürgermeistern!
Nichts wäre falscher, als in einer hochkomplexen Weltsituation einfache Lösungen vorzuschlagen und dafür wieder hohe Grenzen, gar mit Stacheldraht (und Schießbefehl?) zu riskieren. In dem inzwischen zu viel zitierten Satz »Wir schaffen das« steckte auch das europäische Wir. Das wunderbare Friedensprojekt Europa, das wirtschaftlichen Wohlstand und grundsätzlich gleiche Würde und gleiches Recht befördert, steht zur Debatte. Die Friedensnobelpreisträgerin »Europäische Union« (2012) in der Vielfalt der Nationen und kulturellen Prägungen steht in ihrer Existenz ebenso zur Debatte wie die Grundrechte unserer Verfassung.
Angst, Abwehr und nationaler Egoismus - verbunden mit einem Wir/Ihr-Dualismus - führen in erbarmungslose Reaktionen, zumal dann, wenn »Besorgte« und »Warnende« nicht sagen, was man denn mit den Flüchtlingen anders machen soll und kann. Wer aber Probleme, die es mit den Mengen an Flüchtlingen fast unvermeidlich gibt, übersieht und übergeht, gießt fahrlässig Wasser auf die Mühlen derer, die ihr fremdenfeindliches Argumentationsschema bestätigt sehen. Auf fremdenfeindliche Emotionen einzugehen, heißt nicht, ihnen nachzugeben. Wer verantwortlich und an Menschenrechten orientiert handelt, wird nicht Ängste schüren, aber auf sie reagieren und sie so aufgreifen, dass sie auf ihren rationalen Kern zurückgeführt, praktisch vermindert, sozial und psychologisch bearbeitet werden. Blinde Flüchtlingsfreunde sind im Effekt bisweilen so gefährlich wie blinde Flüchtlingshasser.
Die soziale Not von »Einheimischen« angesichts der Sach- und Geldleistungen für die Flüchtlinge darf nicht aus dem Blick geraten. Das eine darf nicht gegen das andere ausgespielt werden. Das ist eine der schwierigen, wichtigen, unverzichtbaren Vermittlungs- und Erklärungsaufgaben der politisch Handelnden. (Hier ist das öffentliche Wort des Bundespräsidenten im Lande und nicht in Davos gefordert.)
Von den führenden Politikern der AfD (von Pegida und NPD ganz zu schweigen) war noch kein Wort des Mitgefühls für Flüchtlinge oder für die praktische Linderung von deren Notsituation zu hören. Nur Abschottung, äußerlich wie innerlich. Chauvinismus und Nationalismus waren bisher immer mit Herzenskälte und geistiger Enge gepaart. Oder sollte Deutschland seine Grenzen überall richtig dichtmachen? Was wäre das für ein Deutschland? Was wäre das für ein Europa? Ein Horror!
Die Probleme zu verschweigen oder wegreden zu wollen, wäre unverantwortlich. All denen, die nicht handeln müssen, sei ein Wort Schillers aus »Wallensteins Tod« zugerufen: »Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.« Diese hart sich im Raume sehr konkret stoßenden Sachen brauchen unglaublich viel Geduld und innere Gewissheit. Die Haut der Zivilisation ist dünn, sehr dünn. Überall. Wo allerdings Hassgefühle überhand nehmen, wird rationales Denken und versöhnendes Dazwischengehen nahezu unmöglich. Der Hass ist Ausdruck verlorengegangener innerer Souveränität und Verlust von Rationalität, sofern diese sich mit ethischen Grundmaximen verschwistert.
Es ist immer wieder zu erinnern an einen bemerkenswerten Satz der Kanzlerin vom September 2015: »Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.« Für ein Land, in dem die Freundlichkeit die überwiegende Reaktion auf (fremde) Menschen darstellt, lohnt es sich einzustehen - nicht zuletzt dann, wenn man die Erfahrungen der europäischen, speziell der deutschen Geschichte stets im Blick behält.
Im Übrigen: Wem ist wegen der Flüchtlingsströme bisher eine einzige staatliche Zuwendung gekürzt oder verweigert worden?
Es sei an Immanuel Kants Schrift »Zum ewigen Frieden« erinnert. Dort hat der große Königsberger über die »Bedingungen der allgemeinen Hospitalität« nachgedacht und geschrieben, dass die Menschen »vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde ... sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch nebeneinander gedulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Ort der Erde zu sein mehr Recht hat als der andere.« Kant spricht von einem Hospitalitätsrecht auf einer Erde, die der ganzen Menschheit gehört und die auf ein Weltbürgerrecht ausgerichtet sein muss, zumal in einer inzwischen globalisierten Welt.
Was wir zu schaffen haben, ist zuerst die Bewahrung unserer menschenrechtlichen Grundlagen, aus denen uns Verpflichtungen erwachsen, ohne uns zu überfordern. Wir schaffen das. Aber nicht alleine.
Wir haben einen Preis. Aber keinen Gewinn.
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