Slums und fünf Sterne auf den Kapverden

Mit der Münchnerin Anne Seiler unterwegs in ihrer Wahlheimat vor der westafrikanischen Küste

  • René Jo. Laglstorfer
  • Lesedauer: 6 Min.
Hungerbäuche, Slums neben Fünf-Sterne-Hotels und Schweinefutter, das von hungrigen Menschen gegessen wird - Leben auf den Kapverden.

»Manena bo tá?« (Wie geht's dir?), fragt die quietschvergnügte Kapverdierin Ana ihre deutsche Chefin. »Tud dret«, also »alles gut«, antwortet Anne Seiler in kapverdischem Kreol, das auf dem Portugiesischen basiert.

Vor 15 Jahren hat die gebürtige Bayerin als Touristin das erste Mal die frühere portugiesische Kolonie Kapverden betreten. Anne Seilers Besuch auf den rund 500 Kilometer vor der westafrikanischen Küste gelegenen Inseln vulkanischen Ursprungs sollte ihr Leben und das vieler Bewohner der Ilha do Sal - zu Deutsch »Insel des Salzes« - verändern.

»Ich bin ja schon in sehr vielen Ländern gewesen, aber auf den Kapverden hat es einfach klick gemacht«, erzählt Anne. Um die Jahrtausendwende hat sie sich in einen Kapverdier verliebt. Heute lebt sie mit ihrer 14-jährigen Tochter Telma im Süden der Insel Sal im Städtchen Santa Maria. Seit fast 15 Jahren arbeitet Anne als Reiseleiterin für deutschsprachige Touristengruppen auf Sal.

Traumhafte Sandstrände, kristallklares Wasser und riesige Hotelanlagen haben das verschlafene Fischerdorf innerhalb von 20 Jahren in ein touristisches Zentrum verwandelt. Wahrzeichen der 20 000 Einwohner zählenden Stadt mit ihren pastellfarbenen Häusern, Restaurants und Läden ist das historische Waaghaus am alten Hafenkai von Santa Maria. Wo früher der einzige Reichtum der Insel - Salz - abgewogen wurde, haben sich heute Souvenirläden eingemietet.

Ana ist Analphabetin. Sie stammt aus dem Armenviertel Terra Boa im Norden der dünn besiedelten Insel. »Sie hat Schwierigkeiten gehabt, einen Job zu finden. Also habe ich Ana vor vier Jahren bei mir zu Hause angestellt, damit jemand für meine Tochter da ist, wenn ich arbeite. Darüber ist sie sehr glücklich und ich bin es auch«, sagt die Unternehmerin, von der mittlerweile viele Arbeitsplätze auf Sal abhängen. Zusammen mit ihrem Mitarbeiter Tcharls und vielen weiteren Helfern zeigt sie Urlaubern aus der Schweiz, Österreich und Deutschland ihre Wahlheimat.

Durch unwirtliche Marslandschaften fahren wir mit Ana nach Pedra de Lume, was soviel wie »feuriges Gestein« bedeutet. Das war früher wirtschaftliches Zentrum der Insel und dank des industriellen Salzabbaus Namensgeber von Sal. Hier leben heute nur noch ein paar Fischer in dem verlassenen Dorf, das einer Geisterstadt aus dem Wilden Westen gleicht.

Im Vulkankrater hat sich vor langer Zeit eine natürliche Saline unterhalb des Meeresspiegels gebildet. Durch das poröse Lavagestein konnte Meerwasser einsickern, verdunsten und als schneeweiße, glitzernde Salzschicht wieder an die Erdoberfläche treten.

Bis zu 30 000 Tonnen Salz sind von Ende des 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts jedes Jahr abgebaut und hauptsächlich nach Brasilien exportiert worden. Schließlich ist die Salzgewinnung nach und nach eingestellt worden und dient heute nur noch dem Eigenbedarf. Durch einen Tunnel gelangen wir ins Innere des Vulkankraters mit seinen zahlreichen Seen, die einen höheren Salzgehalt als das Tote Meer aufweisen. Touristen nehmen in der Kraterumgebung ein Bad, lassen sich im Salz eingraben und massieren.

Im Anschluss erreichen wir das Dorf Terra Boa, übersetzt »gute Erde«. Hier leben in selbstgezimmerten Baracken - ohne Strom und fließendes Wasser - rund 300 Menschen, davon 130 Kinder. Die illegale Slumsiedlung liegt einige Kilometer hinter der Inselhauptstadt Espargos mitten in der Wüste: »Ich sage immer wieder, gebt den Kindern bloß nichts, die lernen nur zu betteln. Wenn ich komme, dann wissen die Kinder, es gibt Obst. Weil Obst sauteuer ist auf der Insel, das kauft kein Mensch.«

Als es früher noch mehr geregnet hat, ist Terra Boa ein Landstrich gewesen, wo die Bewohner Gemüse anbauen konnten. »Um diese Menschen herum hat sich ein Slum gebildet. Seit zehn Jahren schaue ich zu, wie er wächst und wächst«, sagt Anne Seiler. Sie hat vor ihrer Zeit auf den Kapverden als Journalistin gearbeitet. Neben Terra Boa gibt es noch drei weitere Slums auf Sal, direkt an die Hauptstadt Espargos angedockt.

Was veranlasst viele Kapverdier, in eine Barackensiedlung zu ziehen? Slums gibt es auf den Kapverden nur auf zwei Inseln: Boavista und Sal. Sie sind die Zentren für den Massentourismus und viele Kapverdier hoffen, auf dem Bau, als Reinigungskraft oder im Tourismus Arbeit zu finden. Cecilia konnte sich die Miete in Espargos nicht mehr leisten und hat deswegen in Terra Boa ihre Zelte aufgeschlagen.

Ihr Nachbar Roberto ist vierfacher Vater und stammt aus São Nicolau, einer kapverdischen Insel, die von Landwirtschaft und Armut geprägt ist. »Ich bin Bäcker, Fischer und Tischler. Wenn eine Arbeit nicht ausreicht, dann suche ich eine zweite und eine dritte«, sagt der 30-Jährige. Er engagiert sich ehrenamtlich in dem von Anne Seiler 2010 gegründeten Hilfsverein »Associação Apoio as Crianças de Terra Boa« (AACTB). »Früher hat es keinen Kindergarten in Terra Boa gegeben. Jetzt ist er gratis - im Gegensatz zu allen anderen Kindergärten auf Sal. Die Kinder bekommen kostenlos jeden Tag eine warme Mahlzeit. Seit Anne mit ihrem Projekt begonnen hat, gibt es kein Kind mehr in Terra Boa, das nicht in den Kindergarten oder in die Schule geht. Das ist sehr wichtig«, sagt Roberto.

Neben dem neu gebauten Kindergarten, den die Bewohner von Terra Boa »Jardim Anne« nennen, hat die Deutsche gemeinsam mit vielen engagierten Kapverdiern zahlreiche weitere Projekte realisiert. »Mindestens zehn Prozent unserer Einnahmen durch Inselrundfahrten sowie alle meine Trinkgelder gehen in unsere ›Terra Boa-Kasse‹, aus der Arztbesuche für kranke Kinder, Medikamente, der Schulbus, ein Wassertank mit 13 000-Litern sowie Schulsachen und Schulgelder bezahlt werden.« Auch Ana Paula, die Chefin des öffentlichen Krankenhauses, behandelt die Kinder von Terra Boa regelmäßig kostenlos. Hinzu kommen die Kooperation mit einer Zahnärztin in Espargos sowie zahlreiche Kinder-Patenschaften.

Familie Haller aus Deutschland unterstützt das Mädchen Idirlene über eine Patenschaft finanziell und mit Sachspenden. Sie hat sie auch während eines Urlaubs auf Sal besucht. Die Fahrt nach Terra Boa kam ihr vor wie die Reise in eine andere Welt, erinnert sich die Patentante Haller. Das selbst gebaute Domizil der Familie Idirlenes ist sehr karg eingerichtet, und es wird an einer offenen Feuerstelle mit Holz gekocht. Das Geld reicht meist nur für Reis und Bohnen für die 13-köpfige Großfamilie. Einige der Kinder und Erwachsenen in Terra Boa haben durch die Mangelernährung Hungerbäuche.

»Was mich nachts nicht schlafen lässt, ist die Frage, wie es sein kann, dass es hungernde Leute gibt auf einer Insel, auf der Fünf-Sterne-Hotels stehen, wo es unzählige unterschiedliche Gerichte gibt und zu Bergen aufgetürmte All-Inclusive-Essen. Das geht mir nicht in den Kopf«, sagt Anne Seiler. Wenn sie die Hotels fragt, was mit den Essensresten von den Buffets passiert und ob sie sie mitnehmen könne, bekommt sie überall dieselbe Antwort. »Es gebe ein Gesetz, das es den Hotels verbiete, die Buffetreste herauszugeben. Entweder haben die sich zusammengeschlossen oder das Gesetz existiert wirklich. Das lasse ich gerade von einem Anwalt prüfen.«

Ein großes Hotel auf Sal verkauft die Buffetreste als Schweinefutter. »Die armen Kapverdier kaufen das«, weiß Anne Seiler. Das sei ja qualitativ gutes Essen. »Es gibt Menschen auf Sal, die essen sogar Hunde und Katzen. Andere wissen gar nicht, was sie ihren Kindern zu essen geben sollen.«

Gründe dafür sind in den extrem niedrigen Einkommen und hohen Preisen zu finden: Ein Zimmermädchen in einem Hotel auf Sal verdient rund 150 Euro im Monat. Doch die Lebenshaltungskosten haben westeuropäisches Niveau. »Viele Lebensmittel sind sogar erheblich teurer als bei uns in Deutschland«, sind sich Anne Seiler und die Patenfamilie Haller einig.

Verantwortlich für die hohen Preise in Supermärkten ist die aufgrund des wüstenähnlichen Klimas sehr begrenzte landwirtschaftliche Produktion. Sie macht teure Importe nötig. Trotz der harten Lebensbedingungen begegnen die Kapverdier Besuchern ihres Inselstaates aber stets fröhlich und fragen: »Manena bo tá?«

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