Das Volk?
Tom Strohschneider über den Missbrauch einer Parole
Es sei »der wichtigste Satz dieser letzten Wochen« gewesen, so hat es Christa Wolf am 4. November 1989 vor Hunderttausenden auf dem Berliner Alex beschrieben: »Wir sind das Volk.« Es war der Ruf von bisher Schwachen gegen eine starke Obrigkeit, es war der Refrain einer großen Veränderung. Es war die Idee eines anderen, demokratischen Landes.
Heute bemäntelt der ausländerfeindliche Mob von Clausnitz und anderswo seinen Hass gegen Schwache mit jener Wende-Parole und fälscht sie in einen Hetzgesang derer um, die schon den Zuzug von einigen Kriegsvertriebenen in ihrem Dorf für zu viel Veränderung halten. Und doch machen es sich jene zu einfach, die nun sagen: Nein, ihr seid nicht das Volk! Es gibt zwar viele, die sich engagiert gegen Rechts einsetzen. Aber es lässt sich auch nicht ausblenden, wie verbreitet die Vorurteile und der Hass sind, die sich in Clausnitz, Bautzen und anderswo johlend Bahn brechen.
Woher kommt das? Wolfgang Thierse erklärt nun die Empfänglichkeit der Ostdeutschen für menschenfeindliche Botschaften mit den Veränderungen, die in den vergangenen 25 Jahren die neuen Länder durchschüttelten. Was dabei vergessen wird: Mit dem demokratischen Ruf »Wir sind das Volk« war 1989 zunächst ein ganz anderer Wandel gemeint. Einer mit solidarischen Vorzeichen und nach sozialen und ökologischen Maßstäben. Es ist dann anders gekommen - unter der nationalistischen Parole »Wir sind ein Volk« und unter schwarz-rot-goldenen Fahnen. Die sieht man heute wieder auf den Straßen wehen: bei Pegida und Co.
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