Der Russland-Virus

Elena Gorokhova über Elena, die einen Amerikaner geheiratet hat

  • Jan Eik
  • Lesedauer: 3 Min.

Anfangs möchte man mit der Heldin Elena hadern, die sich allzu leichtfertig auf ein Abenteuer eingelassen hat, das keinen guten Ausgang verspricht. Zu tief haben die Leningrader Kindheit und Jugend sie und ihre verhasste und doch so geliebte Familie geprägt. Dem zu entkommen, heiratet die wenig erfolgreiche Studentin den nächstbesten Amerikaner und folgt ihm in das Land der Verheißung, das sich ihr in abweisender Fremdheit präsentiert. Ihr stoffliger Ehemann, der diese Ehe nur eingegangen ist, um Elena die Ausreise zu ermöglichen, ist ihr keine Hilfe in ihrem Unglück, und Texas wohl auch nicht der passende Aufenthaltsort für eine land- und kapitalismusfremde Russin.

Wir schreiben das Jahr 1980. Den Sowjetmenschen stehen weitere harte Jahre bevor. Nur allmählich fasst Elena Fuß in dem Land, von dem sie sich so viel versprochen hat. Sie findet Arbeit, amerikanisiert sich, soweit es notwendig ist, und trifft mit dem Psychologen Andy auf einen Partner voller Verstand und Verständnis. Unversehens ist aus dem spröden Bericht der Emigrantin eine anrührende Geschichte ohne jede Beschönigung und Klage geworden, eine literarische Arbeit voller Poesie und kluger Gedanken. Elena, dank ihrer Sprachkenntnisse zur Universitätsdozentin aufgestiegen, scheint in der neuen Heimat angekommen. Wenn da die Erinnerungen nicht wären, der tief sitzende »Russland-Virus«, der sie plagt, die Briefe und Telefongespräche mit der zurückgebliebenen Mutter, einer vom Leben gebeutelten Ärztin, und der Schwester, einer populären Schauspielerin.

Wie kann sie glücklich sein, wenn der graue Alltag die Lieben noch immer zu erdrücken droht? Wer die einstige Sowjetunion mit offenen Augen bereist hat, weiß, wovon die Rede ist und woran Elena immer wieder erinnert wird.

Immerhin wandeln sich die Zeiten, die Mutter darf sie besuchen und bleibt nach der Geburt von Elenas Tochter Sascha bei der Familie. Anders als die ebenfalls übersiedelnde Schwester lehnt die altgediente Sowjetbürgerin jegliche Anpassung an die so gründlich andere Umwelt ab. In ihrer Vorstellung bleibt sie das treusorgende Familienoberhaupt - vor dem Elena einst geflohen ist. Selbst Andy, der ein Gemüt wie ein Schaukelpferd zu besitzen scheint, rastet eines Tages aus.

Eine heile Welt ist das nicht, in der sich Elena bewegt. Sie konzentriert sich ganz auf Saschas Erziehung, in der sie die Liebe zu zwei Vater- oder Mutterländern zu wecken versucht. Beinahe vergebens, wie sich erweist.

Fassungslos erlebt Elena die Tochter als alternativ-trotzige Veganerin, die sich - legal! - mit einer Kalaschnikow bewaffnet und ebenso ihren eigenen Weg sucht wie Elena fünfundzwanzig Jahre zuvor. Aber wie sagte man schon immer in Russland: Wsjo budjet. Alles wird - und manchmal sogar gut.

Das ist ein empfehlenswertes Buch über die USA, wo beispielsweise die Bankautomaten in Spanisch, Französisch und Russisch funktionieren, nie in Deutsch, über Vaterlands- und übertriebene Mutterliebe und über die wahre Alltagsgeschichte der Russen. Denn eine Russin ist die inzwischen sechzigjährige Elena Gorokhova natürlich geblieben. Das russische Tatoo wird sie immer daran erinnern.

Elena Gorokhova: Russisches Tatoo. Ein Memoir. Aus dem Englischen von Saskia Bontjes van Beck. dtv. 432 S., br., 16,90 €.

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