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Ein Schlund namens Familie
Mit den »Sopranos« auf Gran Canaria: Thorsten Nagelschmidt auf der Flucht vor der Weihnachtsdepression
In Staffel 5 hat Thorsten Nagelschmidt genug von »Die Sopranos«, einer der berühmtesten TV-Serien aller Zeiten, die von 1999 bis 2007 auf HBO zu sehen war. Es geht um die Mafia in New Jersey und den Aufstieg ihres Anführers Tony Soprano, gespielt von James Gandolfini.
Das »homosoziale Abgehänge dieser infantilen Männer«, ihre tumben Begrüßungsrituale, ihr primitiver Rassismus, das endlose Gefresse, Geschlürfe, Geschnaufe und Geschmatze – all das ist kaum auszuhalten. Doch Nagelschmidt, Sänger der Punkband Muff Potter und Autor von Romanen wie »Arbeit« oder »Soledad«, muss durchhalten. Er hat sich vorgenommen, in elf Tagen alle sieben Staffeln der Serie über diese italo-amerikanische Mafiafamilie zu schauen. 86 Stunden Laufzeit – fast acht Stunden täglich. Komaglotzen im Extrem. Um sich voll darauf konzentrieren zu können, hat er sich in ein All-inclusive-Hotel auf Gran Canaria zurückgezogen.
Dies ist die äußere Rahmenhandlung von »Nur für Mitglieder«, Nagelschmidts jüngster Veröffentlichung. Eine autobiografische Erzählung, in deren Zentrum die Flucht vor der Weihnachtsdepression und deren familiäre Ursachen stehen. Eingeflochten werden kurze Passagen zu den Ursprüngen und Traditionen des Weihnachtsfestes in Deutschland, Beobachtungen zur Urlaubsindustrie und soziologische Überlegungen zur Rolle der Familie. Ihren Höhepunkt erreicht die Erzählung mit Nagelschmidts großem depressiven Zusammenbruch im Jahr 2022.
Wie wohl jedes Kind freute sich der Autor auf das säkularisierte Schenk- und Familienfest Weihnachten – vor allem wegen der Geschenke. Doch die Ehe seiner Eltern war unglücklich. Der Vater, ein Arbeiterkind, hatte es in Rheine zum Eigenheim mit zwei Autos gebracht; die Mutter kam vom Bauernhof in die Stadt. Der Vater droht, sich das Leben zu nehmen, und liegt depressiv danieder.
Als Nagelschmidt elf ist, zieht die Mutter mit ihm und seinem Bruder in eine kleine Wohnung. Der jahrelange Streit um Unterhaltszahlungen endet schließlich vor einem Oberlandesgericht. Die Brüder ergreifen unterschiedliche Positionen, der Vater überwirft sich mit zwei seiner Geschwister. Später nimmt sich eine Cousine das Leben; es steht der Vorwurf im Raum, der Großvater habe sie missbraucht. Eine zerrüttete Familie wie aus dem Lehrbuch.
Für den jugendlichen Nagelschmidt wird Punk zur Möglichkeit, sich von dieser Familie zu lösen. Er trampt zu Konzerten und Demos, spielt in einer Band, prügelt sich mit Neonazis und Bundeswehrsoldaten. Dem Weihnachtsfest jedoch kann er nicht ganz entkommen: Es wird zunächst weiter innerhalb der Familie gefeiert, trotz der zähen Unterhaltungen, die kaschieren sollen, dass man sich nichts mehr zu sagen hat.
»Familie, das erschien mir damals schon als etwas Gefährliches und Bedrohliches, von dem man sich besser fernhielt, bevor es einen noch packte und in seinen Schlund zog«, resümiert er nun. Mit 20, noch in Rheine lebend, spürt Nagelschmidt erstmals, dass er in eine Psychiatrie gehört. Halb wahnsinnig, teils suizidal, verletzt er sich selbst und flüchtet in Alkoholexzesse. Der Bruch mit der Familie vertieft sich, weil er – als Erster mit Abitur – nichts »Ordentliches« aus seinem Leben macht. Er will nichts werden außer Musiker und Autor, hält sich mit Nebenjobs über Wasser. Für die Eltern, geprägt vom westdeutschen Aufstiegsversprechen, ist das unverständlich.
Später in Münster und Berlin lebend, hört der Autor auf, Weihnachten mit der Familie zu feiern. Umso schärfer wirkt der Kontrast zu seiner Freundin Helena, die Jahr für Jahr zu ihrer Familie fährt, um dort Weihnachten zu feiern. Nagelschmidt schildert das ausführlich.
Was »Nur für Mitglieder« so lesenswert macht, ist die Verbindung der schonungslosen autobiografischen Spurensuche nach den Ursachen der Weihnachtsdepression mit Tourismusanalysen und kulturgeschichtlichen Exkursen. Besonders gelungen sind die Schilderungen der titelgebenden Urlaubsszenarien im All-inclusive-Hotel. Nagelschmidt beobachtet »bemühte Entspannungsposen, verkniffene Münder und abschätzige Blicke aus sonnenbebrillten Augen« unter den nach Armbandfarben kategorisierten Hotelgästen. Er sieht Menschen, die ins Leere starren, mechanisch ihren »Nährschlamm« in sich hineinschaufeln. Eigentlich erwartet er nichts anderes – und ist doch erschüttert, wie ratlos und traurig viele wirken. Und was ist mit den »Sopranos«? Nagelschmidt erreicht sein Ziel, übersteht sogar die letzte Folge. Mehr aber auch nicht. Aber er konnte so seine Weihnachtsdepression vermeiden. Und das ist schließlich das Wichtigste.
Thorsten Nagelschmidt: Nur für Mitglieder. März-Verlag, 233 S., geb., 24 €.
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