Des Westens Weltherrschaft endet jetzt!

»Zeitenwenden ohne Ende« – Notizen von einer wissenschaftlichen Konferenz in Berlin

  • Pia Sophie Roy
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Zeitenwende 1917 begann in Petrograd und eroberte dann Moskau, wie hier ikonografisch versinnbildlicht.
Die Zeitenwende 1917 begann in Petrograd und eroberte dann Moskau, wie hier ikonografisch versinnbildlicht.

Die Zeit trägt einen roten Stern im Haar«, lautete der Titel eines Sonderhefts des »Neues Deutschland« 1957 über den »Vorstoß der Sowjetunion in den Weltenraum«, den ersten Satelliten im All – im Westen als »Sputnik-Schock« wahrgenommen. Ein weltweit Achtung gebietendes Ereignis, das durchaus als eine Zeitenwende bezeichnet werden kann.

Vier Jahrzehnte zuvor war mit der sogenannten Oktoberrevolution in Russland eine wohl noch bedeutsamere Zäsur in der Geschichte der Menschheit gesetzt worden. Auf einem Sechstel der Erde wurde eine neue Gesellschaftsordnung probiert, die über sieben Dezennien den Zeitlauf mitbestimmte, Millionen Menschen weltweit begeisterte und letztlich doch enttäuschte – was sich am markantesten in den Auf- und Umbrüchen 1989/90 in Osteuropa und der Sowjetunion offenbarte. Eine wahrhaftige Zeitenwende mit Auswirkungen global. Der Kapitalismus triumphierte weltweit, das Ende der Geschichte wurde (voreilig) verkündet.

Ob der Ukraine-Krieg, von einem deutschen Bundeskanzler als eine Zeitenwende apostrophiert und allerseits als solche nachgeplappert, tatsächlich diese Etikettierung verdient, ist diskutabel. Für Europa war die Nachkriegsfriedenszeit jedenfalls bereits mit den Jugoslawien-Kriegen in den 90er Jahren beendet, und der »Rest der Welt« litt seit 1945 ununterbrochen unter Kriegen: Kolonialkriege, Interventionskriege, Bürgerkriege, Stellvertreterkriege.

Der Zeitenwenden gibt es viele. Diesen widmete sich eine Konferenz der Hellen Panke in Berlin, die – zufällig oder nicht – an einem zeitenwendisch historischen Datum, dem 7. November stattfand, jenem Tag also, an dem anno 1917 in Petrograd auf dem II. Sowjetkongress die Bolschewiki die Macht im ehemaligen russischen Zarenreich übernahmen, eine Chaos stiftende Doppelherrschaft beendend.

»Zeitenwenden ohne Ende« war die Tagung überschrieben, auf der Historiker, Politikwissenschaftler und Militärexperten ihre Erkenntnisse und Einschätzungen historischer wie aktueller Ereignisse austauschten, die allesamt der Linkspartei mehr oder weniger nahestehen. Ein Sönke Neitzel war nicht dabei. Interessanterweise fiel auch nicht einmal dessen Name. Warum auch? Viel zu viel Gehör wird jenem Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte an der Universität Potsdam geschenkt, der just bei der Expertenanhörung im Bundestag, von der Unionsfraktion geladen, über »Zögern und Zaudern« bei der Wiedereinführung der Wehrpflicht wetterte und zum wiederholten Male vor einem Überfall Russlands auf Europa warnte. Ein- oder zweimal tauchten in der Debatte die Namen des Bundeswehr-Politologen Carlo Masala und dessen Gefährtin im Geiste, der Transatlantikerin Claudia Major, auf.

Den Auftakt machte der Berliner Historiker Stefan Bollinger, Spiritus Rector der Konferenz. Er fragte keck, ob es vielleicht nicht »der Russe« an sich sei, »der die heutigen Umbrüche triggert«. Seit geraumer Zeit konstatieren Wissenschaftler wie Politiker, dass wir in Zeiten der Polykrise leben, also mit verschiedenen Krisen konfrontiert sind: Interessenkonflikte zwischen Staaten und Bündnissen, die teils kriegerisch ausgetragen werden, ein mit zunehmender Ressourcenknappheit und fortschreitender Globalisierung mit härteren Bandagen geführter Kampf um Rohstoffe und Absatzmärkte, sich zuspitzende soziale Verwerfungen in Nord wie Süd, hochgeschürte nationale und ethnische Konflikte, Klimakrise etc. An all diesem ist freilich nicht allein »der Russe« schuld. Feindbilder werden bekanntlich beschworen, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit von eigenen Sünden abgelenkt werden soll.

Bollinger erinnerte an die zwei Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, »Urkatastrophe« und »Zivilisationsbruch«, an die systemübergreifende Anti-Hitler-Koalition, die bereits den Kalten Krieg ankündigenden US-amerikanischen Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, an Berlin- und Kuba-Krise sowie schließlich nukleare Teststopp-Abkommen und Rüstungsbegrenzungsverträge. »Irgendwann begriffen die starken Männer in Washington und Moskau, Paris und London, dass bei aller Konkurrenz die in Jalta und Potsdam besiegelte bipolare Weltordnung zu akzeptieren sei und gemeinsames Handeln geboten war, um den ultimativen, die Menschheit auslöschenden Krieg zu verhindern.

Ein Ergebnis dieser Einsicht war die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die Schlussakte von Helsinki. »Schließlich sorgte die faktische Aufkündigung der Konstellationen von 1945 unter dem Eindruck der wohlwollend beobachteten und beförderten Implosion der Sowjetunion und des Ostblocks in Europa und in den meisten verbündeten Staaten des Globalen Südens für ein Ende der bipolaren Ordnung und für den Übergang zu einem scheinbar allmächtigen Unilaterialismus einer einzigen Weltnacht und deren engster Verbündeter.«

Nach dem Intermezzo der »Pax Americana« haben wir es laut Bollinger jetzt mit einer multipolaren Ordnung gleichberechtigter Kräfte mit Machtzentren in Washington sowie in Brüssel und Berlin auf der einen und Beijing, Moskau, Neu-Delhi auf der anderen Seite zu tun, »die allerdings keinen revolutionären Umbruch im Geiste linker Gesellschaftsveränderung erwarten« lasse: »Es ist wohl so seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus, dass der Kapitalismus seine ›propagandistische Kraft‹ entfaltet, wie Rosa Luxemburg konstatierte, ›eine Form, die die Tendenz hat, sich auf dem Erdrund auszubreiten und alle anderen Wirtschaftsformen zu verdrängen, die keine andere neben sich duldet‹.«

Frank Deppe, Soziologieprofessor aus Marburg, reflektierte den raschen Stimmungsumschwung in der deutschen und europäischen Sozialdemokratie zwischen dem Internationalen Sozialistenkongress 1907 mit seinem konsequenten Antimilitarismus und der Kriegsbegeisterung und »Burgfriedenspolitik« 1914. Diese wich schließlich der Kriegsmüdigkeit, mündete in Spaltungen der Sozialdemokratie und revolutionären Unmut. Dass trotz der Erfahrung zweier verheerender, von deutschem Boden ausgegangener Weltkriege der erste deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer die Remilitarisierung der Bundesrepublik durchpeitschen konnte, lag daran, dass die Beschwörung einer Bedrohung aus dem Osten erneut bei der Mehrheit der deutschen Bevölkerung fruchtete.

Interessant Deppes Bemerkungen, dass der Osten ungewollt in den 50er/60er Jahren die Wahlsiege der CDU/CSU ermöglichte: durch den 17. Juni 1953 in der DDR, die Ereignisse in Ungarn 1956, den Bau der Berliner Mauer 1961 und den Einmarsch der Warschauer Vertragsstaaten 1968 in Prag. Es habe in der Bundesrepublik aber auch stets engagierte Kräfte gegen Militarisierung und Aufrüstung gegeben. So marschierte damals gar ein rechter Sozialdemokrat wie Georg Leber in München unter einem Transparent mit der Aufschrift »Generalstreik! Kampf dem Atomtod!« Deppe verwies auf diverse Initiativen aus dem Osten, unter anderem den Rapacki-Plan zur Demilitarisierung Mitteleuropas, 1957 vom polnischen Außenminister Adam Rapacki auf der UN-Vollversammlung präsentiert. Und freudig erinnerte er sich auch an seinen ersten Ostermarsch von Darmstadt nach Offenbach, »über die Dörfer, wo wir vom Bürgermeister und örtlichen Pfarrer empfangen wurden«. Deppe bedauerte, dass vielen jungen Linken heute wichtiger als das Ringen um Frieden der Kampf gegen Autokratie zu sein scheint.

Erhard Crome wiederum fühlte sich verpflichtet, die mit der Wahl des jungen Demokraten Zohran Mamdami zum Bürgermeister von New York auch unter den Linken hierzulande ausgebrochene Euphorie nebst überzogener Erwartungen für die gesamten USA zu dämpfen. Der Friedens- und Sicherheitsexperte der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der mit Deppe dieser Tage das Buch »Weltordnung im Umbruch. Krieg und Frieden in einer multipolaren Welt« (Papyrossa, 171 S., br., 14,90 €) veröffentlichte, machte zudem auf die frappierende Tatsache aufmerksam, dass es in der Geschichte der USA mehrheitlich demokratische Präsidenten waren, die zum Marsch in Kriege trommelten oder solche anzettelten, von Wilson und Roosevelt über Truman, Eisenhauer bis Kennedy und Johnson, während Republikaner im Weißen Haus eher Kriege beendeten, so Nixon. Trumps Ambitionen als Friedensstifter sollten die Linken nicht kleinreden, riet Crome. Und an die Adresse jener Linken gerichtet, die hinsichtlich der Verfasstheit der russischen Föderation noch Illusionen hegen, sagte der am Babelsberger Institut für internationale Politik zu DDR-Zeiten promovierte Wissenschaftler: »Russland ist nicht die Sowjetunion. Nachdem der Kommunismus zerbröselt war, brauchte man eine neue Ideologie.« Putin bediene sich in der Mottenkiste der Geschichte, greife auf Rituale der Zarenzeit zurück. Kapitalismen allerorten, so Crome. Auch wenn bei China von Kapitalismus zu sprechen nicht so einfach sei, da die kapitalistischen Unternehmen dort unter rigider Kontrolle der Kommunistischen Partei stünden, die wie dereinst ein Mandarin schalte und walte. Crome verkündete sodann mit Verve, gewiss überraschend für die meisten Teilnehmer der Konferenz: »Des Westens Weltherrschaft endet jetzt!«

Die heftigsten Diskussionen gab es hinsichtlich der Datierung und Einordnung des Ukraine-Krieges. Für den Militärhistoriker Lothar Schröter begann jener nicht am 24. Februar 2022, sondern bereits am 13. April 2014 mit dem Einfall ukrainischer Truppen in Donezk. »Das Minsker Abkommen diente nur dazu, Zeit zu gewinnen; der Angriff auf Russland stand unmittelbar bevor, das Schwarze Meer sollte ein Mare Nostrum für die Nato werden.« Schröter ist überzeugt, dass »zu keinem Thema so viel gelogen wurde und wird wie hinsichtlich der Nato-Osterweiterung«. Er meinte damit die nicht eingehaltenen, allerdings nur mündlich gegebenen Versprechungen des Westens gegenüber Gorbatschow. Des Weiteren erinnerte er an einstige Ideen zur Auflösung der Nato respektive zu einem kollektiven Sicherheitssystem mit Russland von Wladiwostok bis Lissabon. Dies alles und noch viel mehr ist in Schröters neuem Buch nachzulesen: »Der Ukraine-Krieg. Die Wurzeln, die Akteure und die Rolle der Nato« (Edition Ost, 348 S., geb., 32 €).

Leidenschaftlich und akribisch mit Zahlen und Fakten unterlegt, prangerte Özlem Demirel, Mitglied der Linksfraktion im EU-Parlament, die Militarisierung der Europäischen Union an. Europa wolle nicht länger nur ökonomischer und finanzieller, sondern zunehmend auch eigenständiger militärischer Akteur sein. Die Deutsch-Türkin kurdischer Herkunft zerpflückte die vielen Lügen von einer angeblich über Jahre kaputtgesparten Bundeswehr, einer angeblich selbstlosen Waffenhilfe für die Ukraine sowie einer angeblich sozialen und nachhaltigen Rüstungsindustrie. Sie klagte die Schattenhaushalte zur Finanzierung militärischer Abenteuer an und gab mehrfach im O-Ton die EU-Präsidentin Ursula von der Leyen wieder, die klar und offen von »Kriegswirtschaft« spricht und von jedem Nato-Staat Einsatzbereitschaft im Falle eines Krieges gegen Russland fordert. Des TV-Comedians Stefan Raabs Spitzname für die vormalige (skandalumwitterte) deutsche Verteidigungsministerin, nämlich »Flinten-Uschi«, bestätigt sich einmal mehr. Özlem Demirel zitierte abschließend den französischen Sozialisten und Pazifisten Jean Jaurès, der vergeblich vor dem Ersten Weltkrieg warnte. Dessen Mahnung bleibt aktuell: »Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.«

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