Wo die Kräuterhexer wirken
Thüringen ist unter den deutschen Bundesländern der Marktführer in Sachen Heilpflanzen
Die Aussaat von Johanniskraut gehört für Erich Hartel zum Alltagsgeschäft bei Gartenbau Lindig in Erfurt. Mit geübten Handgriffen nimmt er Paletten mit vorbereiteter Erde aus einem Gestell und legt sie auf das Laufband einer kleinen Maschine. Vollautomatisch werden dann in jede der 300 kleinen Mulden einige winzige Johanniskrautsamen eingesetzt und gewässert. Innerhalb weniger Tage füllt Hartel den Vorkeimraum mit zwei Millionen Pflänzchen. Nach einigen Wochen Anzucht im Gewächshaus werden sie dann auf die Reise zu verschiedenen Gartenbaubetrieben geschickt, die sie großziehen und ernten.
»Das Besondere an diesem Johanniskraut ist der Umstand, dass die komplette Fertigung in Thüringen stattfindet«, sagt Geschäftsführer und Besitzer Frank Lindig. In einem der Gewächshäuser zieht er eine schützende Schicht Plastikfolie zur Seite, darunter sind bereits die ersten zarten Sprösslinge zu sehen. »Angefangen beim Saatgut über die Anzucht bis zur fertigen Pflanze wird in diesem Fall alles von Thüringer Betrieben gemacht.« Doch auch bundes- und europaweit sei die Nachfrage gut, sagt Lindig. In dem Erfurter Betrieb wird neben Johanniskraut auch Ampfer, Baldrian, Oregano, Verbene und Schlüsselblume herangezogen.
Mit rund 930 Hektar Anbaufläche (Stand 2014) ist die Kamille die in Thüringen am häufigsten angebaute Heilpflanze. Auf dem zweiten Platz folgt Pfefferminze mit etwa 200 Hektar. Die Kulturen von Johanniskraut, Melisse, Schafgarbe und Baldrian umfassen zwischen 20 und 40 Hektar. Etwa 90 Prozent der Anbaufläche verteilt sich in Thüringen auf drei große Unternehmen: Agrarprodukte Luwigshof in Ranis (680 Hektar), die Agrargenossenschaft Nöbdenitz im Altenburger Land (430 Hektar) und die Geratal Agrar GmbH in Andisleben (85 Hektar).
Biologisch angebaute Heilkräuter werden immer stärker nachgefragt, in Thüringen gibt es nur wenige kleine Betriebe, die diesen Markt bedienen. Aufgrund der strengen Vorgaben durch die Abnehmer werden aber auch in konventionellen Betrieben Schädlingsbekämpfungsmittel dem TIHDG zufolge nur sparsam eingesetzt. Die größte Konkurrenz für den Heilkräuteranbau in Deutschland sind südamerikanische Länder wie Argentinien. agö
»Thüringen ist unter den deutschen Bundesländern tatsächlich der Marktführer in Sachen Heilkräutern«, erklärt Daniel Schmutzler, Sprecher des Thüringer Interessenverbands Heil-, Duft- und Gewürzpflanzen (TIHDG) in Ranis. »So viele Anbauflächen wie hier gibt es sonst nirgends in Deutschland.« Bereits in den 1960er Jahren sei in der DDR der Grundstein für die Zucht von Heilpflanzen gelegt worden. Von diesem Wissen profitierten die Betriebe bis heute. Aber: »Es wird immer schwieriger, neue Anbaubetriebe oder Anbauflächen zu finden«, sagt Schmutzler. Seit 2011 registriert das Landwirtschaftsministerium Thüringens einen leichten, aber stetigen Flächenrückgang: Von 1584 Hektar im Jahr 2011 auf 1355 Hektar in 2014.
»Und dieser Trend setzt sich auch aktuell immer weiter fort«, sagt Schmutzler. Obwohl die Landesregierung vor einigen Jahren versucht hatte, mit einer Kampagne gegenzusteuern, wagen nur wenige Gartenbaubetriebe den Umstieg auf Heilkräuter. Die Gründe sind vielfältig: »Zum einen sind viele zusätzliche Investitionen nötig, etwa in spezielle Trocknungsanlagen«, sagt Schmutzler. Erfahrung sei ein weiterer wichtiger Aspekt - etwa um Infektionen und Krankheiten wie die Rotwelke beim Johanniskraut rechtzeitig zu erkennen. Und weil die Forschung beim Nischenprodukt Heilpflanzen im Vergleich zu Getreide oder Raps recht überschaubar sei, kämen Neuentwicklungen bei Maschinen oder Schädlingsbekämpfungsmitteln eher langsam voran.
»Nach wie vor ist sehr viel Handarbeit nötig«, sagt Schmutzler. »In Ranis sind allein 60 Saisonarbeiter nur für das Unkrautjäten nötig.« Spezialgeräte wie Kamille-Pflückmaschinen seien entweder teure Einzelanfertigungen oder Eigenbauten.
Trotz des Rückgangs sind die Heilkräuterspezialisten zuversichtlich, dass Thüringen auch in Zukunft in Deutschland die Nummer Eins auf diesem Markt bleibt. Neben der langjährigen Erfahrung würden immer neue Pflanzen in Kultur genommen und neue Wege ausprobiert, sagt Daniel Kronenberg vom Landwirtschaftsministerium. Im Freistaat liefere der Forschungsstandort in Atern und die dort ansässige Firma Pharmaplant immer wieder neue Impulse. Weil sich nicht viele Betriebe auf Heilkräuter spezialisiert haben, gewinnen auch bundesweite Kooperationen zwischen Forschungseinrichtungen und Gärtnereibetrieben immer mehr an Bedeutung.
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