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Unbequem mehr erreichen

Holm-Andreas Sieradzki über die ver.di-Jugend, ihre neue Kampagne und die Interessen junger Werktätiger

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 9 Min.
»Wir wissen, dass wir mehr erreichen, wenn wir unbequem sind und uns einmischen«, erklärt Holm-Andreas Sieradzki, Gewerkschaftssekretär im Bereich Jugend beim ver.di-Vorstand. Im Interview mit nd-Redakteur Jörg Meyer spricht Sieradzki über die ver.di-Jugend, ihre neue Kampagne und die Interessen junger Werktätiger.
Seitdem Sie 19 Jahre alt sind, sind Sie in der Gewerkschaft organisiert und später auch der LINKEN beigetreten. Das ist nicht typisch für Jugendliche heute. Was war Ihre Motivation?

Zur Gewerkschaftsarbeit bin ich über den klassischen Weg gekommen. Ich habe eine Ausbildung im Niederschlesischen Oberlausitzkreis in Ostsachsen gemacht und zwar im öffentlichen Dienst. Dort wählten mich die Kolleginnen und Kollegen im Jahr 2000 zum Jugendvertreter in meiner Dienststelle. Mit der Wahl bin ich in die Gewerkschaft eingetreten - damals war es die ÖTV, heute ist es ver.di. Über den Kontakt zu meiner Jugendsekretärin bin ich vor Ort gewerkschaftlich aktiv geworden. Und drei Jahre später stieg ich auf Bundesebene in den Arbeitskreis Tarifpolitik ein. Seitdem hat mich das Thema nicht mehr losgelassen.

Zur Person

Holm-Andreas Sieradzki ist Gewerkschaftssekretär im Bereich Jugend beim ver.di-Vorstand und dort zuständig für Tarifpolitik. Er vertritt die Forderungen der Auszubildenden in den laufenden Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst. Der 35-jährige gebürtige Görlitzer saß auch schon für die LINKE im Görlitzer Kreistag und ist seit 2010 hauptamtlich bei ver.di.

Alles aus eigener Überzeugung?

Bei der gewerkschaftlichen Arbeit war es schon auch die Sozialisation vom Elternhaus. Meine Mutter ist seit Ewigkeiten IG-Metall-Mitglied. Da war es selbstverständlich, dass man in die Gewerkschaft eintritt, wenn man Beschäftigter ist. Außerdem habe ich mich schon immer für Politik interessiert. Dass ich nicht nur Mitglied sein, sondern auch etwas tun wollte, war von Beginn an klar.

Welchen Beruf haben Sie gelernt?

Ich habe drei Jahre Verwaltungsfachangestellter gelernt, den Job vier Jahre ausgeübt, 2005 mein Abitur nachgeholt und danach Sozialarbeit studiert. Nach dem Studium begann die Tätigkeit bei ver.di.

Die ver.di-Jugend hat Anfang des Jahres die Kampagne »Besser unbequem« gestartet. Was genau verbirgt sich dahinter?

Wir sind als ver.di-Jugend in den vergangenen Tarifrunden immer aktiver geworden - in vielen Branchen, nicht nur im öffentlichen Dienst. Anfang 2015 haben wir uns zusammengesetzt und uns gefragt, wie man die Aktivitäten bündeln kann. Daraus ist eine bundesweite Tarifkampagne entstanden, um als ver.di-Jugend noch stärker wahrnehmbar zu sein. Wir haben letztes Jahr schon angefangen mit Forderungsdiskussionen und ja, »Besser unbequem« zeigt unsere Haltung in der Tarifarbeit. Wir wissen, dass wir mehr erreichen, wenn wir unbequem sind und uns einmischen.

Eine Kampagne, die explizit auf die Tarifarbeit abzielt, klingt etwas hölzern ...

Nein. »Besser unbequem« ist eine Aktivierungs- und Mobilisierungskampagne. Wir wollen junge Beschäftigte in den Betrieben und Dienststellen ansprechen und sie motivieren mitzumachen. Sie sollen für ihre eigenen Forderungen streiten.

Wie viel von der Kampagne stammt von Ihnen selbst? Sie arbeiten in der Tarifpolitik seit Beginn Ihrer Gewerkschaftstätigkeit.

Da steckt auch eine ganze Menge von mir drin, besonders kleinteilige Arbeit, aber die Kampagne ist auf einer breiten ehrenamtlichen Beteiligung gewachsen. Das ist eine ihrer Stärken. Wir haben einen Kampagnenrat ins Leben gerufen, der sich um zentrale Entscheidungen beispielsweise beim Aktionsmaterial kümmert. Ehrenamtliche vor Ort entwickeln ihre Forderungen, diskutieren und planen Aktionen. »Besser unbequem« besteht aus Jugendlichen aus vielen ver.di-Branchen und aus allen Landesbezirken, deckt also die gesamte Gewerkschaft ab.

Sie sagten Aktivierungskampagne. Was soll ich mir darunter vorstellen?

Wir gehen in die Jugend- und Auszubildendenvertretungen (JAV), sprechen die Auszubildenden an, laden sie zu Kampagnentreffen ein. Oder wir fragen sie nach ihren Wünschen und Bedürfnissen - die dann bei den Treffen diskutiert und so zu Tarifforderungen auf breiter Basis werden. Wir haben unterschiedliche Strukturen in den einzelnen Bezirken oder Betrieben und Dienststellen, wir haben Aktivenkreise vor Ort, die konkrete Planungen machen, Leute ansprechen.

... und Mitglieder gewinnen.

Sicher. Wir wollen mit dieser Kampagne wachsen. Tarifarbeit ist ja nur erfolgreich, wenn wir mehr Mitglieder gewinnen und unsere Forderungen auch durchsetzen können. Wir konzentrieren uns stark auf betriebliche Aktionen, weil Tarifarbeit im Betrieb, in den Dienststellen stattfindet - und entsprechend von den Leuten durchgeführt werden muss, die dann das Gesicht der ver.di-Jugend in den einzelnen Betrieben sind.

Warum gibt es die Kampagne erst jetzt? Unzufriedenheiten in der Ausbildung gibt es bei jungen Berufstätigen seit Jahren.

Gute Frage. Die Tarifarbeit hat sich in der ver.di-Jugend entwickelt und inzwischen einen hohen Stellenwert. In vergangenen Tarifrunden gab es unterschiedliche regionale und lokale Kampagnen. Die wollten wir bündeln, um gemeinsam mehr auf die Beine stellen zu können. Deswegen gibt es die Kampagne »erst jetzt«, aber eigentlich ist sie eine folgerichtige Entwicklung aus den letzten Jahren.

Das betrifft dann aber ver.di insgesamt und nicht nur die Jugend.

Die Jugend nimmt einen höheren Stellenwert ein als früher. Das liegt zum einen daran, dass die Gesamtorganisation sagt: »Das ist unsere Zukunft, das sind die Mitglieder und die Aktiven von morgen und von übermorgen.« Wenn ich als Auszubildender in ver.di eintrete und dann übernommen werde, bleibe ich hoffentlich auch der Gewerkschaft erhalten. Mit dem letzten Bundeskongress ist die ver.di-Jugend mehr in den Fokus der Gesamtorganisation gerückt. Man merkt es aber auch in den Tarifrunden. In der Tarifrunde für den öffentlichen Dienst in Bund und Kommunen 2014 haben Kollegen, die lange schon Tarifpolitik machen, gesagt, dass sie lange nicht mehr so viel Jugendliche bei den Aktionen gesehen haben. Auch dadurch haben wir einen höheren Stellenwert in der Gewerkschaft. Diese Tendenz wollen wir mit »Besser unbequem« weiter voran bringen. Auszubildende und junge Beschäftigte sollen und müssen sich ihrer eigenen Forderungen bewusst und dafür auch aktiv werden.

Von der Jugend an sich zur Jugend für sich ...

Genau! Das hat auch etwas von dem klassischen Empowerment-Ansatz. Also dass Leute dazu befähigt werden, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen und für ihre eigenen Belange, für ihre eigenen Forderungen kämpfen.

Die DGB-Schwestergewerkschaft NGG sieht in ihren Branchen die größten Probleme in der Kochausbildung mit bis zu 50-prozentigen Abbrecherquoten wegen der harten und oft miesen Arbeitsbedingungen. In welchen Branchen ist es für die ver.di-Jugend am schwersten?

Das ist sehr unterschiedlich. Häufig geht es um Berufsperspektiven. Vor allem die Frage von Übernahme nach der Ausbildung ist für viele Bereiche ein großes Thema. Wir haben immer mehr Tarifbereiche, in denen wir Übernahmeregelungen mit den Unternehmen vereinbaren konnten. Die Ausbildungsvergütung ist ein weiteres Thema, das die Leute bewegt, weil die Bezahlung in den einzelnen Branchen sehr unterschiedlich ausfällt. Da hat sich vieles verändert.

Zum Beispiel?

Häufig ist mit dem Ausbildungsbeginn der Umzug in eine andere Stadt verbunden, in eine eigene Wohnung. Es genügt ein Blick auf die Mietpreisentwicklung, um zu wissen, wo da die Probleme liegen. Ein drittes Thema, das uns auch im öffentlichen Dienst beschäftigt, ist Ausbildungsqualität: Welche Rahmenbedingungen werden zur Verfügung gestellt, um Ausbildung gut zu machen, um Ausbildung besser zu machen. Das sind die Kernthemen.

Was genau macht eigentlich ein gelernter Verwaltungsfachangestellter im Landratsamt?

Das ist eine Ausbildung, die viel mit Gesetzen zu tun hat, also quasi die einschlägigen Verwaltungsgesetze anwenden zu lernen. Ich habe nach der Ausbildung vier Jahre im Sozialamt gearbeitet, war dort Sachbearbeiter in der Hilfe zum Lebensunterhalt. Das Anwenden, das Auslegen von den Gesetzen lernt man als Verwaltungsfachangestellter.

Wie war das in Ihrer Ausbildung mit der Vergütung und den Ausbildungsbedingungen?

Die Vergütung war noch deutlich geringer. Das ist aber jetzt auch schon eine ganze Weile her; von 1998 bis 2001. Besonders beim Geld haben wir in den letzten fünf Jahren einen Sprung gemacht, um etwas mehr Anschluss an die Privatwirtschaft zu finden. Die Ausbildungsqualität war ein großes Thema. Zum einen ging es darum, ob es in jedem Bereich eine Ausbilderin oder einen Ausbilder beziehungsweise Ansprechpartner für die Auszubildenden gibt. Du brauchst ja Ansprechpartner, Leute, die sich konkret um die Auszubildenden kümmern, die die Ausbildung übernehmen, die anleiten, die für Fragen zur Verfügung stehen. Manchmal ging es bei uns um ganz profane Sachen: Ist ein Arbeitsplatz vorhanden, oder ein Computer? »Oh, wo setzen wir dich jetzt hin?«, ist eine Frage, mit der wir häufig konfrontiert waren. Die Übernahme war auch ein großes Thema. Es gab eine Übernahmeregelung, in der stand: »Die Tarifvertragsparteien wirken darauf hin, dass Auszubildende übernommen werden.«

Na super ...

Wir hatten keine wirkliche Übernahmeregelung, und wenn wir über Übernahme geredet haben, dann für ein halbes Jahr.

Der gleiche Befristungsmist wie heute auch.

Richtig. Wir haben im Landratsamt zumindest einen Haustarifvertrag abgeschlossen. Das war übrigens auch einer der Anfänge meiner gewerkschaftlichen Arbeit. In den 1990ern und Anfang der 2000er gab es einen großen Personalabbau im öffentlichen Dienst in Sachsen. Ein Rahmentarifvertrag zwischen ver.di und dem Arbeitgeberverband eröffnete die Möglichkeit, Haustarifverträge zur Beschäftigungssicherung abzuschließen. Bestandteil unseres Tarifabschlusses war, dass wir in dem Haustarifvertrag eine Übernahme für ein Jahr festgelegt haben. Das war ein großer Erfolg und hat den Auszubildenden bei uns eine Perspektive gegeben. Wir reden über Ostsachsen. Da war nicht so viel Perspektive sonst.

Was fällt ihnen zum Stichwort »Operation Übernahme« ein?

Das war eine gute Kampagne der IG-Metall-Jugend und ein ganz großes Thema für uns im öffentlichen Dienst von 2008. Wir wollten für Auszubildende tarifvertraglich Perspektiven schaffen. Heute haben wir die Situation, dass es bei Ausbildung nach Bedarf im ersten Schritt eine Übernahme für zwölf Monate gibt. Wenn sich die ehemaligen Auszubildenden in dieser Zeit bewährt haben, werden sie unbefristet übernommen.

»Bewährt«? Hat jemand etwas verbrochen?

Der Begriff der »Bewährung« kommt aus der alten Entgeltordnung im öffentlichen Dienst mit den sogenannten Bewährungsaufstiegen. Man hat sich dann bewährt, wenn man keine rechtsgültige Abmahnung bekommen hat. Wenn junge Beschäftigte in den ersten zwölf Monaten keine rechtsgültige Abmahnung bekommen haben, werden sie unbefristet übernommen. Das ist eine der stärksten Übernahmeregelungen, die ich kenne in Deutschland. Und die ist nur möglich geworden, weil die Auszubildenden im öffentlichen Dienst gesagt haben: »Wir wollen eine Perspektive!« Dafür sind sie aktiv geworden und haben es geschafft. Gleichzeitig ist es immer wieder Thema, weil die Regelung befristet ist.

Letzte Frage: Warum ist die IG-Metall-Jugend doppelt so groß wie die ver.di-Jugend?

Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einen liegt es an den Branchen. Wenn man guckt, wo die IG Metall Stärken hat, dann ist das beispielsweise in der Metall- und Elektroindustrie und bei den Autoherstellern. Da ist es normal, dass Vertrauensleute Azubis ansprechen; und nach dem Ausbildungsvertrag wird der Beitritt zur Gewerkschaft unterschrieben. In verschiedenen Studien melden uns Neumitglieder auf die Frage, warum sie nicht schon früher eingetreten sind, dass sie niemand angesprochen hat. Das müssen wir ändern. Ein weiterer Unterschied ist, dass die Branchen, für die wir zuständig sind, starkem Wandel unterliegen. Beispielsweise ist die Telekom ein riesengroßer Ausbildungsbetrieb, in dem es immer wieder Auseinandersetzungen um die schwankende Ausbildungsquote gegeben hat. In Teilen des öffentlichen Dienstes wird die Ausbildung immer weiter runtergefahren. Dann kann man natürlich auch weniger Auszubildende für die Gewerkschaft gewinnen. Ein dritter Grund ist, dass wir es viel mit filialisierten Betrieben wie im Einzelhandel oder etwa im Friseurhandwerk zu tun haben. Da ist es schwierig, an die Auszubildenden ranzukommen. In der Friseurbranche laufen derzeit die Vorbereitungen für eine eigene Kampagne für einen bundesweiten Azubi-Tarifvertrag.

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