Archimedische Punkte

Warum die Linkspartei den Platz der »radikalen Linken« einnehmen muss. Von Thomas Falkner

  • Thomas Falkner
  • Lesedauer: 9 Min.

Christian Lindner, der FDP-Vorsitzende, hat nach seinem Bundesparteitag im April ein Bonmot geliefert: Von all den sozialdemokratischen Parteien in Deutschland stehe den Freien Demokraten die CDU nach wie vor am nächsten. Freundlicher, aber auch bestimmter kann man sich wohl weder von der AfD abgrenzen noch innerhalb des demokratisch-pluralistischen Lagers eine eigenständige Position behaupten.

Wie ist das mit der Linkspartei? Man kann wohl davon ausgehen, dass sie in Lindners Bild eine der sozialdemokratischen Parteien in Deutschland ist - und vermutlich darunter diejenige, die ihm am fernsten steht. Doch ist das so?

Unser Verhältnis zur Sozialdemokratie war seit 1989/90 stets widersprüchlich. Natürlich war der Weg der PDS, als sie sich aus den Trümmern der parteikommunistisch-staatssozialistischen SED aufmachte, im Kern auch eine »Sozialdemokratisierung« - die allerdings nie in die SPD oder die damals noch bestehende Sozialistische Internationale führte, führen konnte oder führen sollte und die dennoch Nähe und Überschneidungen mit sich brachte. Verbindende Idee blieb die seit 1990 von der PDS bemühte These von der europäischen Normalität einer Partei links von der Sozialdemokratie. Doch was dies bedeutet, blieb letztlich stets unklar - und wurde nur dort scharf, bisweilen schrill, wo das »links von der Sozialdemokratie« auf »nie und nimmer so wie die SPD« reduziert wurde.

Macht man sich von Vorurteilen frei, denen Politik und Öffentlichkeit in Deutschland in den zurückliegenden Jahrzehnten unter der Last spezifischer Umstände gefolgt sind, so ist parteien-systematisch klar: Es geht um den Platz der »radikalen Linken«, der radical left. Diesen Platz gibt es in den entwickelten westlichen Gesellschaften tatsächlich - aber er ist nicht selbstverständlich vergeben. Und schon gar nicht auf ewig.

Bis 1989/90 wurde er in Westeuropa weitgehend von den Kommunistischen Parteien eingenommen - allerdings mit beträchtlichen Anpassungsleistungen, sofern sie erfolgreich und gesellschaftlich verankert waren: Stichwort »Euro-Kommunismus«. Doch so sehr sich die Euro-Kommunisten der Idee von Demokratie und Pluralismus geöffnet hatten und im politischen Alltag handlungsfähig geworden waren - über die Zeitenwende hinaus waren ihre Parteien letztlich nicht lebensfähig. Deutschland hat in dieser Hinsicht einen besonderen Weg hinter sich - geprägt durch den Kalten Krieg und die Spaltung Deutschlands wie durch die Zeitenwende 1989/90. Kristallisations- und Bezugspunkt dieser Entwicklungen in den 1990er Jahren war die PDS, mit der es möglich war, den Weg aus einer mehr oder weniger deutlichen Pro-DDR-Haltung und aus der SED in die neuen Verhältnisse im wesentlichen »erhobenen Hauptes« zu gehen. Es war zwar auch ein Weg kritischer Distanz, auf dem die neuen Realitäten an Erfahrungen und Werten einer traditionellen Arbeitsgesellschaft, an egalitären und radikal-demokratischen Vorstellungen gemessen wurden. Aber in seinem Wesen war er eine Anpassungsleistung. Die bestimmte die 1990er Jahre. Sozialistische Vorstellungen wurden geistig wie praktisch anschlussfähig an parlamentarische Demokratie, Pluralismus und Marktwirtschaft (gemacht).

In den 2000er Jahren ändert sich das und die Spaltung der SPD angesichts des sozialen Protestes gegen die Agenda 2010 - den Bruch des rheinischen Sozialstaats-Versprechens - prägte die Verhältnisse auf der Linken. Große Teile der sozialkonservativ geprägten Sozialdemokratie und der mehr oder weniger integrierten westdeutschen radikalen Linken machten sich auf den Weg zur Eigenständigkeit - und folgten ihrer politischen Leitfigur Oskar Lafontaine. Sein politisches Talent und seine symbolische Wirkung hatten maßgeblich dazu beigetragen, den traditionell sozialdemokratisch geprägten Milieus eine Perspektive zu geben. Zugleich stand Lafontaine stets auch in der Mitte der (westdeutschen Teil-)Gesellschaft und spielte mit dem Wunsch, sogar die im rechten Spektrum an sozialen Fragen Interessierten einzubinden. Sein Versuch, daraus den Prototyp des Radikal-Linken in Deutschland zu entwickeln, scheiterte letztlich an den vielfachen inneren Widersprüchen dieses Modells, seiner mangelnden Überzeugungskraft in Ostdeutschland und dem mangelhaften Zugang zu den perspektivisch relevanten Fragen einer modernen Gesellschaft.

Zu einer wirklichen Herausforderung für die SPD aber wird die LINKE erst, wenn sie diesen Entwicklungsschritt zur radical left geschafft hat. Denn: Die Radikale Linke ist zwar in den entwickelten westlichen Gesellschaften eine »kleine Partei« (Harald Pätzolt) - in bestimmten geschichtlichen Wendesituationen kann sie aber (erneut) zum entscheidenden Gegenpol der etablierten Kräfte werden (Griechenland/SYRIZA). Einerseits muss sie sich jeglicher Hybris enthalten, andererseits bereit (und fähig!) sein zur Führung - das ist die strategische Herausforderung.

Als die Kommunisten den Platz der Radikalen Linken einnahmen, äußerte sich ihre Radikalität in der »Systemfrage« nach dem Sturz des Kapitalismus - verbunden mit teils überraschendem Pragmatismus in der Kommunalpolitik oder sogar in nationalen Regierungsbeteiligungen (wie in Frankreich). Auf der Suche nach dem Platz der Radikalen Linken in Deutschland hat sich auch für DIE LINKE dieser Dualismus als nicht tragfähig erwiesen. Andere, wie SYRIZA, die nicht an das System des Kapitalismus selbst, wohl aber die politischen Strukturen, die transnationalen Verflechtungen und Interessengeflechte auf einen Schlag und noch dazu aus einer Position der Schwäche heraus Hand anlegen wollten, sind damit ebenfalls gescheitert.

Was ist die Schlussfolgerung? Nicht die Radikalität von Fragestellung und Analyse, die Radikalität der Zukunftsvision oder der fundamentalen Alternative allein machen die moderne radical left in diesen Zeiten aus, sondern die Radikalität praktisch verfolgbarer Lösungsansätze. Was ist jetzt unausweichlich zu tun - im Interesse des Gemeinwesens, des sozialen Zusammenhalts, im Interesse des sozialen Sicherheitsgefühls der Menschen?

Schon vor über zehn Jahren ist die entstehende Linkspartei mit dem Ruf nach und mit der Ankündigung einer »neuen sozialen Idee« in die damaligen Bundestagswahlen gezogen. Doch seither stand dennoch eher das Zurück hinter die Schröder-Münteferingschen Reformen der 2000er Jahre im Zentrum linker Politik, nicht das Vorwärts zu neuen, zukunftsorientierten Strukturen. Sicher, die uralten sozialen Ideen der Arbeiterbewegung und der christlichen Sozialethik sind heute so aktuell wie noch nie - aber was bedeuten sie unter den Bedingungen von Globalisierung und HighTech-Wirtschaft jedoch, von demografischem Wandel, hochgradig ausdifferenzierter Gesellschaft und weltweiten Kommunikationsnetzen? Unter diesen Bedingungen den uralten zivilisationsgeschichtlichen Geboten von Mitmenschlichkeit zu entsprechen - das ist die Herausforderung. Das zu erfassen - das ist die neue soziale Idee.

Drei Grundelemente wird sie haben müssen: Erstens, die Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, müssen wieder lernen, dass es stets - also auch heute - eine Verantwortung aller für alle gibt. Politik hat hier eine große, aber keine alleinige Verantwortung. Wer glaubt, es reiche, dass Politik entsprechende Antworten durchdrückt, der schwenkt auf den letztlich autoritären Irrweg ein. Der europäische Sozialstaat ist auch vor 130 Jahren nur dem Anschein nach »von oben« eingeführt worden - in Wahrheit institutionalisierte er seither stets Formen von Selbstorganisation und Solidarität »unten«, unternehmensinterne Wohlfahrtsregeln für Alte und Sicherungssysteme gegen Krankheit, klassische Mildtätigkeit und Ergebnisse von Klassenkämpfen ebenso wie die Aushandlungsprozesse von »Kapital und Arbeit« - verbunden mit Garantien und Zuschüssen des Nationalstaates. Für die Reorganisation des Sozialstaates reicht es deswegen auch heute nicht aus, nur auf den Staat, auf seine Gesetze und sein Geld, zu schauen.

Zweitens verlangt eine neue soziale Idee zu klären, wie die Menschen auch angesichts der neuen Risiken von heute nicht unter ein bestimmtes Lebensniveau abstürzen, wie dieses Lebensniveau aussehen muss und wie es zu erreichen ist. Es wäre infam zu versprechen, man könne die Risiken ausschließen. Es ist zynisch, sich nur auf jenen immer kleiner werdenden Teil zu konzentrieren, der immer noch stark gegen die Risiken abgeschirmt ist - durch Tarifkartelle, durch Regeln des öffentlichen Dienstes, durch das Beamtentum, durch starke Lobbys, durch Eigentum und Vermögen. Risiken können nicht ausgeschaltet werden - aber ihre Folgen für die Menschen müssen Gegenstand von Politik, Inhalt einer neuen sozialen Idee sein. Dabei geht es um mehr als Essen und Wohnen. Es geht um Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, um Kommunikation, um Beteiligung am Fortgang der Wissensgesellschaft. Auch hier ist vor allem ein neuer gesellschaftlicher Konsens gefragt, nicht staatliche Verordnung.

Drittens schließlich ergibt sich aus der Einsicht in die Unabwendbarkeit von Risiken für die neue soziale Idee die Schlussfolgerung, dass dem Auf und Ab in Wirtschaft und individuellen Leben immer wieder auch ein Auf folgen muss - und dass dies nicht allein den persönlichen Anstrengungen und Glücksumständen überlassen sein kann. Schon deswegen nicht, weil ja auch das Ab in aller Regel nicht in erster Linie individuell verschuldet, sondern durch gesellschaftliche Umbrüche bedingt ist.

Die neue soziale Idee - das ist hier mehr als Solidarität, Wohltätigkeit und kostenintensiver Sozialstaat zur Alimentierung Benachteiligter. Sie ist auch nicht in irgendeiner Statik von Arm und Reich, Oben und Unten zu erfassen. Wo es um den Weg der Gesellschaft als Ganzes in eine neue Welt geht, sind Klientelismus und Gruppenegoismus ungeeignete Begleiter oder gar Wegweiser.

Die Herausforderungen des »Systems« annehmen, die soziale Frage, wie sie sich unter diesen Umständen stellt, ins Zentrum rücken und dem »System« aus der Mitte des strategischen Dreiecks und in alle Richtungen blickend Veränderungen im Interesse der Menschen aufzwingen - das dürfte die zentrale politische Methode der radical left sein, die damit zugleich den Hebel an archimedische Punkte ansetzt, von denen aus weitergehende Umbrüche erreicht werden können. Ein Beispiel: Bloß den Superreichen zur Finanzierung gesellschaftlicher Belange einen möglichst großen Teil ihres Ertrags aus dem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus nehmen zu wollen, würde ja relativ schnell zu dem Interesse daran führen, diese Spielart des Kapitalismus zu verstetigen, damit immer wieder neu etwas von den Superreichen geholt werden kann. Radikal linke Politik muss aber auf ein anderes Regulationsregime setzen, auf den geordneten Abfluss von Mitteln aus der gigantischen virtuellen Finanzblase, mit der die »Finanzindustrie« operiert, und ihre Umleitung in die Realwirtschaft. Sie muss darauf hin arbeiten, das Geld als Tausch- und Zahlungsmittel aus den Klauen der Spekulation zu befreien und zu einem öffentlichen Gut zu machen - denn das ist es seinem ursprünglichen Zweck nach: ein öffentliches Kommunikationsmittel in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft. Das führt direkt zur Neuordnung des Systems der Geldschöpfung und damit zum Umbau des Bankensystems zugunsten der Zentralbanken und zu Lasten der vornehmlich privaten Geschäftsbanken. Das ist der Kern der Sache - und da geht es um mehr als um die öffentliche Kontrolle über Bankhäuser.

An die Stelle des finanzmarktgetriebenen Systems muss und wird ein anderes treten: ein System, das vorrangig auf Information, Digitalisierung, Innovation aller Lebens- und Wirtschaftsbereiche beruht. Ein System, in dem sich eine alte, in der Linken lange verschüttete Erkenntnis des Ökonomen und Gesellschaftstheoretikers Karl Marx bestätigen wird: dass nämlich die - wie er es ausdrückte - Produktivkräfte das vor allem treibende Element gesellschaftlicher Entwicklung sind. Und das in einer Dynamik, die bislang kaum vorstellbar erscheint und die Erfahrungen aller Generationen sprengen wird.

Für die LINKE wie für die Linke insgesamt wird das nur zu bewältigen sein, indem man sich den Fortschrittsgedanken wieder zu eigen macht. Indem Fortschritt als Herausforderung und Chance begriffen wird - in diesem Sinne positiv belegt wird. Vieles ist und wird möglich, was das Leben der Menschen verbessern kann - die Aufgabe der Linken ist es nicht, diese Entwicklungen stoppen, verzögern oder an andere Orte der Welt drängen zu wollen. Aufgabe der radikalen Linken ist es, Fortschritt zu ermöglichen, ihm eine Richtung zu weisen und ihn so mit sozialen Innovationen zu begleiten, dass sich Technisches, Ökonomisches und Gesellschaftliches zum Nutzen der Menschen verbinden.

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