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Neun Stationen des Schreckens

Göttinger Ausstellung zu Zwangsarbeit in Südniedersachsen wird durch Busexkursion ergänzt

  • Kai Böhne, Göttingen
  • Lesedauer: 4 Min.
Millionen Menschen wurden von den Nazis gezwungen, in Deutschland Zwangsarbeit zu leisten. Was das im Raum Göttingen hieß, zeigt eine Ausstellung. Exkursionen führen nun auch an authentische Orte.

Seit gut einem Jahr wird in der Göttinger Godehardstraße 11 die Dauerausstellung »Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945« gezeigt. Nun haben die Initiatoren den Versuch gestartet, das Angebot durch Busexkursionen zu erweitern. So nahmen an einem Wochenende im April rund 50 Interessierte an einer Fahrt zu Orten der NS-Zwangsarbeit im niedersächsischen Landkreis Göttingen teil. Förderer ist das Netzwerk »Partnerschaft für Demokratie (PfD) im Landkreis Göttingen«.

In der NS-Zeit waren 50 000 bis 60 000 zivile Zwangsarbeiter aus 16 Nationen auf dem Gebiet der heutigen Landkreise Northeim und Göttingen in der Rüstungsindustrie, in der Landwirtschaft und im Handwerk eingesetzt. Die größte Gruppe, 41 Prozent, stammte aus Polen, weitere 19 Prozent kamen aus der Sowjetunion. Um ihr Schicksal zu verdeutlichen, hatte der Exkursionsleiter, der Kulturwissenschaftler Günther Siedbürger von der Geschichtswerkstatt Duderstadt, neun Stationen ausgewählt.

Erster Halt war Reyershausen. Im Saal der ehemaligen Gastwirtschaft Degenhardt waren russische und ukrainische Zwangsarbeiter untergebracht. Sie arbeiteten für die Aerodynamische Versuchsanstalt der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (AVA), die ihren Sitz in der Göttinger Bunsenstraße hatte. In einem stillgelegten Kalischacht wurde unter strenger Geheimhaltung an einer Versuchsreihe über Flugeigenschaften gearbeitet. Die Zwangsarbeiter wurden bei Bauarbeiten eingesetzt.

In Bodensee verwies Siedbürger auf eine sogenannte »Ausländerkinder-Pflegestätte«. Schwangerschaften von Zwangsarbeiterinnen und ausländische Kleinkinder waren unerwünscht. Die Kinder wurden oftmals getrennt von den Müttern untergebracht. »Die Existenz dieser Häuser ist bis heute mit einem Tabu belegt«, erläuterte Siedbürger.

Weitere Haltepunkte waren die Jacobi Tonwerke in Bilshausen, die ehemaligen Schickert-Werke in Rhumspringe und der Standort ehemaliger streng getrennter Barackenlager für Niederländer, italienische Militärinternierte und russische Kriegsgefangene in Hilkerode. Im Jacobi Hauptwerk verrichteten rund 220 Menschen aus Osteuropa Ziegelei- und Verladearbeiten. Der Frauenanteil unter ihnen war mit 47 Prozent recht hoch. In den Schickert-Werken sollte Treibstoff für deutsche Düsen- und Raketenflugzeuge produziert werden. Seit Oktober 1942 wurde deshalb unter Hochdruck ein Werk errichtet.

Auf der Großbaustelle herrschten furchtbare Bedingungen. Die Arbeiten waren schwer, das Arbeitstempo scharf. Es gab viele Unfälle, einige endeten tödlich. Ein junger Zwangsarbeiter, der das Kugellager eines Güterwaggons mit Sand bestreut hatte, anstatt es mit Öl zu schmieren, wurde denunziert und später auf dem Sportplatz von Rhumspringe öffentlich erhängt. Bevor das Werk die Produktion aufnehmen konnte, wurde es von amerikanischen Truppen eingenommen.

Seit September 2014 erinnert ein Denkmal aus 69 Grauwackesteinen auf dem Duderstädter St. Paulus Friedhof an 69 rechtswidrig eingeebnete Gräber von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern. Siedbürger verwies auf ehemalige Duderstädter Betriebe, in denen Zwangsarbeiter eingesetzt wurden: die Dampfziegelei Bernhard, die Reißwollfabrik Franz Hollenbach und ein Zweigwerk des Magdeburger Rüstungsunternehmens Polte.

Ausführlich und detailliert wurde bei der Exkursion über die Arbeitsbedingungen, die Unterbringung und die Ernährungssituation der Zwangsarbeiter informiert. Zur Illustration hatte der Exkursionsleiter für die Haltepunkte jeweils zahlreiche laminierte historische Fotos und Dokumente vorbereitet, die er herumgehen ließ. Bei einem Zwischenstopp an der Domäne Himmigerode zitierte Siedbürger Aussagen früherer Zwangsarbeiter, die von schweren Misshandlungen durch den Pächter Wissemann berichten. Den Abschluss bildete ein Halt in Groß Lengden und Diemarden. Der Exkursionsleiter zeigte ein Haus in Groß Lengden, das als Kriegsgefangenenlager für serbische und französische Kriegsgefangene gedient hatte. Auch bei der Gartetalbahn von Göttingen nach Duderstadt wurden Zwangsarbeiter ausgebeutet. Sie waren im Saal der Gaststätte Bieling in Diemarden untergebracht.

Der Pächter des Klosterhofs Diemarden, Friedrich Rollwage, war laut Siedbürger einer der wenigen, die nach dem Krieg zur Verantwortung gezogen wurde. Rollwage war von der US-amerikanischen Militärregierung verhaftet worden. Zwei polnische Zwangsarbeiterinnen des Guts hatten ausgesagt, von Rollwage geschlagen und getreten worden zu sein. Eine auf dem Klostergut lebende deutsche Frau bezeugte dies. Rollwage wurde von einem polnischen Gericht verurteilt und verbüßte in Polen eine Freiheitsstrafe.

Für die Teilnahme an den Busexkursionen wird von den Interessierten nur ein Eigenbeitrag von fünf Euro erhoben. Die übrigen Kosten werden vom Netzwerk »Partnerschaft für Demokratie (PfD) im Landkreis Göttingen« finanziert, das wiederum vom Bundesfamilienministerium unterstützt wird.

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