Laute Liebe, ganz konkret

AnnenMayKantereit

Er musste schreien. Immer wieder. Um gehört zu werden - auf den Straßen von Köln. Dort begann vor fünf Jahren die Geschichte der Band AnnenMayKantereit. Sie erzählt von einem sensationellen Erfolg. Aus den Social-Media-Stars ist der aufregendste und meistdiskutierte deutsche Act geworden. Einmalig ist: Noch bevor im März das erste mit einem Label produzierte Album »Alles nix Konkretes« erschienen ist, waren alle 25 Tourneekonzerte ausverkauft. Am Montagabend spielten die vier Kölner Jungs, alle Mitte 20, in Berlin.

AnnenMayKantereit brauchen nicht viel, die Bühne im Tempodrom wirkt fast zu groß. Christopher Annen spielt Gitarre, Sänger Henning May auch Klavier, Severin Kantereit sitzt am Schlagzeug. Damit ist schon mal der Bandname erklärt. Bassist Malte Huck ist erst seit zwei Jahren dabei. Musikalisch bewegen sich die zwölf Songs des Albums zwischen Rock, manchmal Blues, etwas Funk und Singer-Songwriter-Folk. Nichts Neues. Alles handgemacht.

Was die Band braucht und die 4000 Fans im Tempodrom unbedingt wollen, ist die Stimme von Henning May. Sie erklärt wahrscheinlich einen großen Teil des großen Erfolgs. In der Tiefe berührend und fesselnd, rau, kratzig: Die Vergleiche reichen von Sven Regener über Rio Reiser und Bruce Springsteen bis hin zu Tom Waits.

Es ist auch Mays Stimme, die nach dem Erscheinen des Albums zu großer Kritik in den Feuilletons geführt hat. Mag sein, dass sie etwas zu vielversprechend ist, zu viel Hoffnung auf ein deutsches Musikwunder macht. Der schlaksige Junge in T-Shirt, Jeans und Turnschuhen kann diese Erwartungen (noch?) nicht erfüllen. »Selbstmitleidiger Habitus« (»FAZ«), »Duselei statt Diskurs« (»Spiegel«), »Redundanter Biedermeier-Pop für junge Langweiler« (»Welt«) - auch die Banalität der Texte wurde bemängelt. Die Vorwürfe: Melancholie statt Rebellion, Liebeskummer und WG-Leben statt Gesellschaftskritik.

Nun muss man nicht gleich aus Georg Kreislers »Der Musikkritiker« (»Weil ich so unmusikalisch bin«) zitieren, aber die Schärfe der Kritik und die Gehässigkeit auf den Kulturseiten überraschen schon. Nichts war davon zu hören, als AnnenMayKantereit noch ein Geheimtipp waren. Auch nicht, als die Band 2013 ihr erstes Album »AMK« in Eigenregie produzierte: Die fünf Songs, die auch auf dem aktuellen Album sind (!), die kleineren Konzerte und die Auftritte auf verschiedenen Festivals ernteten Lobeshymnen.

Ja, AnnenMayKantereit haben einen Hype ausgelöst. Vielleicht sind sie sogar im Mainstream angekommen. Reflexartig dagegen anzuschreiben, ist ebenso banal wie das Kritisierte. Der Band zuzuhören, vor allem Henning May, wenn er ohne zu schreien laut von der Liebe singt, kann auch einfach nur schön sein: »Ich sitz schon wieder barfuß am Klavier / Ich träume Liebeslieder und sing dabei von Dir.« Die erste Zugabe war ein Höhepunkt am Montagabend beim Konzert im Tempodrom. Aufgestanden von den Sitzplätzen im Oberrang, getanzt und mitgesungen wurde von Beginn an.

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