Die Zukunft: ein Blümchen

Der 53. Jahrgang des Berliner Theatertreffens ist Geschichte

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Man stelle sich das vor! Wir schreiben Zukunft, und aus dem Riss in irgend einem Stadtbeton steht ein Gänseblümchen auf. Ein Blümchen mit allem, was dazugehört. Aber natürlich traut niemand dieser Erscheinung. Die Bewohner hängen an den Fenstern, die Biologen schütteln die Köpfe, die Politiker sind verunsichert, die Polizei umstellt das Gelände, Hubschrauber überfliegen den Standort. Dass es das noch gibt! Nicht zu fassen!

Das Gänseblümchen ist das Theater der Zukunft. Das ganz alte Theater. Bei dem die Schauspieler einander in Gespräche verwickeln, nicht nur in Brüllerei oder Nuschelei. Und im Moment, da sie auf der Bühne jemand sind, sind sie nicht umgehend auch der Kommentator ihres Spiels. Sie erklären klassische Helden nicht vor dem Spiel schon für gestorben. Sie verfangen sich in Hamlet, Don Carlos, Luise und das Käthchen, als erfänden sie die gerade. Die Zuschauer, träte das wieder ein, blickten auf die Bühne, aber auch ungläubig einander an: Dass es das noch gibt! Nicht zu fassen! Das Gänseblümchen-Syndrom!

Immer ist es noch lang hin zu dem, was war. Die Jury des diesjährigen Theatertreffens wollte es anders. Sonst hätte sie, zum Beispiel, Michael Thalheimers »Penthesilea« am Schauspiel Frankfurt eingeladen. Constanze Becker und Felix Rech: Sie schauen in Seelen, indem sie zu Dichtern aufschauen. Verschmelzung, wie es nur Kinderart schafft: Ich bin, was ich spiele! Doch halt - wer auf eine Jury wie eine Möchtegern-Gegenjury antwortet, der verkleinert sich, indem er groß tut: Ich weiß es besser, ich nenn euch den Maßstab! Maßstab - das ist auch nur ein anderes Wort für Vorurteil, und die Maßstäbe von heute sind die Irrtümer von morgen. Kurzum: Auch das 53. Theatertreffen Berlin teilte das Publikum in jene, die schon aufjauchzen, wenn sie ihr tagespolitisch grundiertes Bewusstsein in die Aktualität tauchen können - und in jene, die alle Würde der Kunst erst dann erfahren, wenn diese souverän, weil existenziell tiefer lotend, am hektischen Elend Leben vorbeirauscht.

Annäherung an ein Stück kann heißen: sich langsam hintasten - oder es herziehen. Letzteres ist die überwiegende Gegenwart. Solche Gegenwart hat Namen: Fassung, Bearbeitung, Übermalung, Projekt, Recherche. Oft ist das eine Arbeit gegen die »komplexe Metapher« (Botho Strauß). So war es auch jetzt beim Theatertreffen. Und es hatte einen Nerv für Newcomer. Etwa Simon Stone. Er kam mit Ibsens »John Gabriel Borkman« und inszenierte kürzlich in Hamburg »Peer Gynt« als Frauendrama. Die neue Mode: Geschlechterwechsel? Vieles ist da noch möglich. Tschechows »Drei Brüder«. Die Schwestern Karamasow. Die Räuberinnen, mit Franziska und Karla Moor. Die Stellvertreterin. Dürrenmatt wäre auch dabei: Der Besuch des alten Herrn. Brecht nicht zu vergessen: Der heilige Johann der Schlachthöfe, Vater Courage und seine Kinder. Bei einigen Stücken und Namen wird’s freilich schwierig. Aber noch aus »Othello« ließe sich, aus naheliegenden Gründen, »Nutella« ableiten. Und sei es, um die Katechisten der linken politischen Korrektheit mit etwas Schwarz zur Weißglut zu reizen.

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