Zirkus mit Eltern

Ein richtiger Schmöker, den man immer weiter lesen muss

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.

Mo heißt eigentlich Moritz und ist mit seinen superpedantischen Eltern Loretta und Antonio auf dem Weg in den Urlaub. Die planen alles bis auf die Minute genau. Abfahrt zu Hause, Pipi-Pausen, Ankunft an der Berghütte, alles in einer Tabelle aufgelistet, die Mo auf seinem Handy hat. Mit dem er pausenlos beschäftigt ist.

Ausgerechnet diese Eltern biegen plötzlich von der schnurgeraden Urlaubsautobahn ab und holpern über eine Bergstraße auf ein abgelegenes Gelände. »Überraschung!«, verkündet der Vater dem verdutzten Sohn. Mo fehlen die Worte. »Über... Hä? Was?«, kann er nur noch stammeln. Überraschungen passten zu seinen Eltern wie Wellenreiten zum Dromedar oder Weihnachten zum Monat Juli. Was um Himmelswillen wollen sie in der wohl langweiligsten Ecke der Welt, in der es nicht einmal richtigen Handyempfang gibt?

Nach und nach lässt Judith Allert noch weitere Romanfiguren auf dem Wunschelberg ankommen - bis ihr gesamtes schrulliges Ensemble vorgestellt ist: ein Zauberer mit Knautsch-Hut-Anzug und dem Füchslein Kasimir als Haustier, die bandnudeldünne und camembertblasse Emma, die elfenhafte Madame Claire, das alte Fräulein Erna mit dem Faltengesicht und dem Erdbeermund sowie Meister Sinister mit den Schlangenaugen. Und das sind längst nicht alle der bunten, extravaganten, schrillen oder gruseligen Typen. Irgendwoher kennen sich die meisten, aber woher? Irgendetwas hat sie hierhergetrieben, aber was war es? Irgendein Geheimnis verbindet sie miteinander, aber welches sollte das sein?

So langsam wird aus der öden Ecke mit all diesen komischen Leuten der anscheinend spannendste Punkt der Erde. Das finden jedenfalls die Kinder Jule, Mo und Emma. Abgesehen vom lebenden Personal verändert sich auch der Ort des Geschehens unaufhörlich. Ein undefinierbarer Zauber herrscht am Wunschelberg, der quasi über Nacht ein Ortsschild bekommt und in flirrendes Licht getaucht wird. Zäune werden bunt, Bäume blühen mitten im Hochsommer, Menschen aus der Gegend kommen zu Besuch, weil sich herausstellt, dass es hier vor vielen Jahren einen berühmten Zirkus gegeben haben soll. Das kann doch alles nur ein Traum sein!

Mo kann sich noch immer nicht so recht vorstellen, dass seine pingeligen Eltern mit ihren unauffälligen mausgrauen Jogginganzügen früher zu einem Zirkus gehört haben sollen. Die fremden Freunde - Zauberer, Bösewicht und Losbudenverkäufer - würden allerdings dafür sprechen. Nicht zu vergessen die Namen: Loretta und Antonio. Klingt das nicht ein bisschen zirkusmäßig? Von allein wollen die mehr oder weniger verrückten Erwachsenen ihre Geheimnisse leider nicht preisgeben. Also müssen die Kinder aktiv werden, wenn sie ihre Neugier stillen möchten.

Judith Allert besitzt die Gabe, die Protagonisten ihrer Geschichte so fantasievoll zu beschreiben, dass sich Illustrationen ganz und gar erübrigen. Vielleicht würden sie den Lesefluss sogar stören, das Bild beeinträchtigen, welches sich die kleine Bücherratte von der ersten Zeile an machte. Und außerdem: Hier handelt es sich nicht mehr »nur« um ein Buch für Kinder, sondern um einen Roman, in dem es um Gut und Böse, Machtkämpfe und Gefahren, Liebe und Tod, Freundschaft und Verrat geht. Genau wie im »richtigen« Leben und im »richtigen« Roman. Bei der jungen, fränkischen Literaturwissenschaftlerin sitzt jeder Satz und jede Beschreibung. Die bei Kindern beliebten Worterfindungen sind unangestrengt lustig, und die kleinen Nebenkonflikte machen die Handlung rund und vielschichtig.

Ganz nebenbei erklären sich dem Kind einige Elterndefizite. Eltern mussten einfach eine lange Strecke ihres Lebens ohne die Klugheit und den Scharfsinn ihrer Kinder auskommen. Das wirkt lange nach.

Judith Allert: Wunschelberg. Das Lächeln des Mittelgroßen Konfusio. Ueberreuther, 180 S., geb., 12,95 €.

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