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»Der Datterich wird erschossen«

In der Gedenkstätte KZ Osthofen erzählt derzeit eine Ausstellung vom Wirken des Publizisten und SPD-Politikers Carlo Mierendorff

  • Marianne Walz, Osthofen
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Gedenkstätte KZ Osthofen präsentiert noch bis Mitte Juli in einer Ausstellung ein dunkles Kapitel der Geschichte Rheinhessens. Sie erzählt von einem KZ-Häftling - von Carlo Mierendorff.

Carlo Mierendorff war in den 1930er Jahren einer der wortführenden Nazi-Gegner im damaligen Volksstaat Hessen. Dieser war von 1918/19 bis 1934 ein Land des Deutschen Reiches, der Namenszusatz Volksstaat bezog sich auf die nach dem Ende der Monarchie eingeführte Demokratie. Seit 1920 hatte Mierendorff als Literat und Publizist, Gewerkschafter und SPD-Politiker die Demokratie leidenschaftlich verteidigt. Ab Juni 1933 schleppten ihn die Nazis durch fünf Konzentrationslager. Osthofen bei Worms war das erste. In der heutigen Gedenkstätte erinnert bis zum 17. Juli 2016 eine Sonderausstellung an Carlo Mierendorff. Biografische und historische Dokumente aus den Jahren der Weimarer Republik haben die Gestalter der Exposition zueinander in offene Beziehungen gesetzt.

Rheinhessen feiert das zweihundertjährige Jubiläum, und die Osthofener Sonderausstellung gibt die Sicht frei auf die 1920er und die frühen 1930er Jahre in der Gegend zwischen Mainz und Heidelberg, Darmstadt und Worms. Die Exposition befindet sich im Untergeschoss des ehemaligen Fabrikgebäudes, in dem zwischen März 1933 und Juli 1934 die KZ-Lagerverwaltung saß.

Wände und raumhohe Bildträger am atmosphärisch aufgeladenen Ort widerspiegeln soziale und politische Unruhe: Arbeiterinnen in Fabrikhallen, Wartende vor Fürsorgeämtern, das Wohnloch einer Proletarierfamilie, Milliarden-Banknoten, Demon-strationen für Arbeit und Brot. Dazwischen die Szene eines Kinoeingangs, eine Projektionsfläche mit Bildern, die das Laufen und Tönen gelernt haben, farbstarke Filmplakate, avantgardistische Buch- und Zeitungstitel, expressionistische Grafiken. Die kulturellen Zeugnisse aus der Hochphase der »goldenen Zwanziger« werden konterkariert durch Politpropagandaplakate, die einander an Angriffshärte überbieten, dazwischen die demagogischen Attacken der NSDAP. Auch KPD und SPD bekämpften einander erbittert. Um 1930 schien der Graben zwischen den beiden Arbeiterparteien unüberbrückbar. Drei schwarze Pfeile auf rotem Grund sind das Symbol der Eisernen Front, gerichtet gegen die antidemokratische Rechte und die KPD mit ihrer »Sozialfaschismus«-These. Dieses Signet hat Carlo Mierendorff zusammen mit Sergej Tschachotin geschaffen.

Die geist- und kraftvolle Stimme Carlo Mierendorffs klingt in der Osthofener Ausstellung tonangebend durch - sowohl unter den Stimmen der Intellektuellen als auch in den politischen Kämpfen. In Zeitschriften wie »Die Dachstube«, 1919 in Darmstadt von Mierendorff mitbegründet, artikulierten sich Künstler wie Hans Schiebelhuth, Kasimir Edschmidt, Theodor Haubach und Carl Zuckmayer.

Mierendorff, 1897 geboren und in bürgerlich-liberalem, musisch anregenden Elternhaus erzogen, hatte prägende Jugendjahre in Darmstadt verbracht. Nach seinen Fronterlebnissen im ersten Weltkrieg war er zum Kriegsgegner geworden, studierte Sozialökonomie, schuf expressionistische Texte und öffnete sich sozialdemokratischen Ideen. Er umgab sich mit einem Freundeskreis politisch und künstlerisch Gleichgesinnter.

1930 bereits Pressereferent im hessischen Staatsdienst, ließ Mierendorff den verfassungsfeindlichen Kreis um Werner Best auffliegen. Best, damals Gerichtsassessor in Gernsheim, war Verfasser der programmatischen Boxheimer Dokumente, benannt nach dem Boxheimer Hof in Lampertheim, wo der Entwurf geheim beraten worden war. Mierendorff sorgte für öffentliches Aufsehen gegen die »Blutpläne von Hessen«. Sie offenbarten: Unangepasste werden nach Machtantritt ebenso liquidiert wie politische Widersacher! Eine populäre Zeitschrift, benannt nach der beliebten Darmstädter Komödienfigur Datterich, titelte: »Der Datterich wird erschossen«.

Best musste sich 1931 in einem Hochverratsprozess verantworten. Doch ab der Niederlage der Demokraten im Januar 1933 stieg er raketenartig bis in höchste Polizeifunktionen des NS-Staates auf. Erste »Amtshandlungen« waren die Einrichtung des KZ Osthofen und die Inhaftierung von Gegnern, darunter Mierendorff. Über die unmenschlichen Haftbedingungen ist in der Dauerausstellung im Obergeschoss unter dem Titel »Verfolgung und Widerstand in Rheinland-Pfalz 1933-1945« Genaueres zu erfahren.

Auch Mierendorffs Werdegang nach seiner Entlassung aus dem Berliner Gestapogefängnis 1938 blieb geradlinig: Er, der die Gefahr genau kannte, schloss sich auf Vermittlung Adolf Reichweins dem Kreisauer Kreis an, knüpfte Verbindungen zu anderen Widerstandsorganisationen. Mierendorff starb am 4. Dezember 1943 bei einem alliierten Luftangriff auf Leipzig. Viele seiner Mitstreiter wurden nach dem missglückten Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 hingerichtet. Der abschließende Teil des Ausstellungs-Rundganges zeigt ein Dokument aus Mierendorffs letztem Lebensjahr 1943. Es ist der »Aufruf zur sozialistischen Aktion«, der Mierendorff zugeschrieben wird. Er beinhaltet Visionen der im Kreisauer Kreis Organisierten zur die politischen Ordnung nach dem Sieg, darunter »Toleranz in Glaubens-, Rassen- und Nationalitätenfragen«, dazu die Forderung nach einer »sozialistische(n) Ordnung der Wirtschaft« sowie der »Zusammenarbeit mit allen Völkern, insbesondere (…) mit Großbritannien und Sowjetrußland«.

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