Leben wir im Anthropozän?

Geowissenschaftler fordern die Einführung einer neuen Epoche der Erdgeschichte. Die Diskussion darüber hat bisher aber zu keinem einheitlichen Ergebnis geführt. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 8 Min.

Klimawandel, radioaktiver Müll, abgeholzte Regenwälder, Plastik im Meer, fortschreitender Artenschwund - die Spuren menschlichen Tuns auf der Erde sind unübersehbar. Nur noch rund 20 Prozent der Oberfläche unseres Planeten befinden sich in einem unberührten Zustand, kommen also einer Wildnis gleich. Für den US-amerikanischen Geografen Erle Ellis heißt das: »Die Erde ist ein Humansystem mit eingebetteten natürlichen Ökosystemen.«

Mit dieser Einschätzung steht Ellis nicht allein. Auch andere Wissenschaftler sind überzeugt, dass die Grenzen zwischen Natur und Kultur zunehmend verschwinden und das künftige Schicksal unseres Planeten - von kosmischen Katastrophen einmal abgesehen - in den Händen der Menschheit liegt. Und das zum ersten Mal in der Geschichte. Wäre es da nicht zweckmäßig, gleich von einer neuen geologischen Epoche zu sprechen? Einen Namen dafür gibt es bereits: Anthropozän. Er ist aus dem Griechischen abgeleitet und bedeutet so viel wie »das von Menschen gemachte Neue«. Streng genommen geht diese Wortschöpfung auf den italienischen Geologen Antonio Stoppani zurück, der 1873 das »Anthropozoikum« als ein Zeitalter definiert hatte, in dem es der Mensch »an Kraft und Universalität mit den großen Gewalten der Natur aufnehmen kann«.

Doch die Idee geriet in Vergessenheit - bis zum Jahr 2000, als der niederländische Chemienobelpreisträger Paul J. Crutzen eine Tagung des Internationalen Geosphären-Biosphären-Programms (IGBP) besuchte. Dort referierte ein Kollege über das Holozän, die aktuelle geologische Epoche seit dem Ende der letzten Eiszeit. »Hören Sie endlich auf, vom Holozän zu sprechen, wir sind längst im Anthropozän!«, rief Crutzen ungehalten dazwischen und traf damit, wie sich rasch zeigen sollte, den Nerv der Zeit. Zwei Jahre nach diesem spontanen Ausbruch fasste er seine gesammelten Argumente pro Anthropozän in einem »Nature«-Artikel zusammen. Titel: »Geology of mankind«. Zunächst ging Crutzen davon aus, dass das Anthropozän mit dem Aufschwung der Industrialisierung begonnen habe. Später änderte er seine Auffassung und datierte den Beginn auf den 16. Juli 1945. An diesem Tag testeten die USA im Süden des Bundesstaates New Mexico erstmals erfolgreich eine Atombombe. Hunderte von weiteren oberirdischen Kernwaffenversuchen folgten. Die hierbei freigesetzten radioaktiven Partikel bildeten weltweit geologische Ablagerungen und damit einen globalen Marker für den Beginn des Anthropozäns. Inzwischen haben sich zahlreiche Wissenschaftler Crutzens Vorschlag angeschlossen. Andere hingegen halten an der »klassischen« Chronologie fest, wonach das Anthropozän mit der industriellen Revolution um das Jahr 1800 begann.

Die offizielle Einführung der neuen geologischen Epoche steht hingegen noch aus. Die Berechtigung hierzu hat allein die International Commission on Stratigraphy (ICS), die im Jahr 2009 eine aus knapp 40 Personen bestehende Anthropozän-Arbeitsgruppe eingerichtet hat, die prüfen soll, welche Argumente für und gegen eine Neugliederung der Erdgeschichte sprechen. Traditionell wird diese in vier große Zeitalter unterteilt: Erdurzeit, Erdaltertum, Erdmittelalter, Erdneuzeit. Kürzere Abschnitte nennt man Perioden, noch kürzere Epochen. Bezogen auf den Menschen heißt das: Wir leben in der Erdneuzeit, in der Periode des Quartärs sowie in der Epoche des Holozäns, das seit etwa 11 700 Jahren andauert.

Während dieser Zeit hat sich die Menschheit vor allem durch die Erfindung von Ackerbau und Viehzucht, die Errichtung von Städten und die Gewinnung neuer Stoff- und Energieressourcen entwickelt. Das Anthropozän hingegen wird als eine Epoche besonders rascher Umweltveränderungen definiert, die auf den rasanten Anstieg der Erdbevölkerung ebenso zurückgehen wie auf den Ressourcenverbrauch, der namentlich ab der Mitte des 20. Jahrhunderts gigantische Ausmaße angenommen hat.

24 Mitglieder der von der ICS eingesetzten Arbeitsgruppe haben unlängst bestätigt, dass der Einfluss des Menschen in irdischen Sedimenten klar feststellbar und das Anthropozän mithin als geologisches Phänomen anzusehen sei (»Science«, DOI: 10.1126/science.aad2622). Das heißt: Noch in Jahrmillionen sollten sich die geologischen Spuren des Menschen auf der Erde nachweisen lassen (sofern dann noch jemand da ist, der dies tun könnte). Ähnliches gilt bekanntlich für die vormals gefundenen Überreste der Dinosaurier, die an der Kreide-Tertiär-Grenze vor rund 65 Millionen ausstarben.

Zu den auffälligen und vermutlich lange haltbaren Spuren des Menschen zählen die Ablagerungen technischer Materialen wie Aluminium und Kunststoff, »die jede Menge sich schnell entwickelnder ›Techno-Fossilien‹ bilden«, wie es in dem »Science«-Artikel heißt. Auch Beton gehört in diese Reihe. »Die jährlich vom Menschen produzierte Menge an Beton ist mit 13 Gigatonnen mittlerweile gleich groß wie jene an Sedimenten, die Jahr für Jahr natürlich von allen Flüssen der Welt verfrachtet wird. Das ist schon ein Zahlenwert, der einem zu denken gibt«, sagt der Wiener Geologe Michael Wagreich, einer der Autoren des Artikels. Als weitere unbelebte Zeugen menschlicher Aktivität werden dort genannt: Kohlenstoffpartikel, die bei der Verbrennung fossiler Energieträger entstehen, künstliche Radionuklide, die aus Kernwaffentests resultieren, sowie Stickstoff und Phosphor aus Düngemitteln.

Außerdem verweisen die Autoren auf den hohen Kohlendioxid- und Methangehalt der Atmosphäre, die steigende globale Durchschnittstemperatur, den Anstieg des Meeresspiegels und die weltweite Verbreitung invasiver Arten. Mark Williams, Paläoklimatologe an der University of Leicester, führt weitere typische Kennzeichen des Anthropozäns an. Sie beziehen sich hauptsächlich auf die Veränderung des Bodens. Dazu gehört unter anderem das verzweigte Netz von unterirdischen Rohren, Leitungen und Tunneln, das vermutlich länger überdauern wird als die meisten oberirdischen Bauten. Aber auch die Relikte des Bergbaus, die unzähligen tiefen Bohrungen ins Erdreich sowie die unterirdischen Deponien, in denen etwa radioaktive Abfälle und chemischer Müll gelagert wird, führen zu Störungen des tieferen Untergrunds. Diese nur von einer biologischen Spezies (dem Menschen) ausgehende geologische Intervention ist in der Geschichte der Erde ohne Beispiel.

Aufgrund der überzeugenden Faktenlage sind viele Wissenschaftler optimistisch, dass die Entscheidung über die Einführung des Anthropozäns in absehbarer Zeit fallen wird, vielleicht schon auf dem Internationalen Geologischen Kongress im August 2016 in Kapstadt. Andere bleiben skeptisch. »Derzeit orte ich in der ICS eher Ablehnung«, sagt Wagreich. »Den Kommissionsmitgliedern ist das Problem zu politisch.« Zudem habe sich die Arbeitsgruppe bisher nicht auf einen globalen Marker für den Beginn des Anthropozäns einigen können. Vorschläge hierzu gibt es mittlerweile mehr als ein halbes Dutzend. Neben den bereits erwähnten - der industriellen Revolution und dem Einstieg ins nukleare Zeitalter - sind auch die folgenden historischen Einschnitte im Gespräch: die Ausrottung der großen Säugetierarten durch eiszeitliche Jäger, die Anfänge der Landwirtschaft und die damit verbundene Waldabholzung, der Beginn der Bergbauaktivitäten vor etwa 3000 Jahren, die »Entdeckung« Amerikas, die mit einem Aufschwung des globalen Handels und einem enormen Artenaustausch zwischen zwei Kontinenten einherging, und die Industrialisierung in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die meisten dieser Ereignisse haben jedoch den »Makel«, dass sie nicht gleichzeitig und überall Spuren in geologischen Schichten hinterlassen haben. Das heißt, es ist hier nicht möglich, einen globalen Eichpunkt zu definieren, der es Geologen erlaubt, die Grenze der Epoche möglichst objektiv festzulegen.

Kritik an der Neugliederung der Erdgeschichte kommt indes auch von anderer Seite. »Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu anthropozentrisch werden«, warnt beispielsweise der Geologe Phil Gibbard von der University of Cambridge, der ebenfalls der Anthropozän-Arbeitsgruppe angehört: »Die Erde hat in ihrer Geschichte schon viele Katastrophen erlebt und sich jedes Mal davon erholt.« Zudem könne niemand voraussagen, wie sich das vermeintliche Anthropozän entwickeln werde. Für die geologische Forschung bringe der neue Begriff ohnehin nichts, ergänzt Manfred Menning vom Deutschen Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ). Er sei daher entbehrlich.

Auch Befürworter des Anthropozän-Konzepts sehen darin nicht allein eine geowissenschaftliche Innovation. Ihnen geht es vor allem um ein neues Selbstverständnis des Menschen und dessen Rolle in der Geschichte. Niemand dürfte heute ernsthaft bestreiten, dass der Mensch, das noch lebende »Leitfossil« des Anthropozäns, seit einigen Jahrzehnten dabei ist, seine eigenen Lebensgrundlagen auf diesem Planeten irreversibel zu beschädigen. Zwar hat sich parallel dazu ein neues Umweltbewusstsein entwickelt, wie nicht zuletzt die Debatte um den Klimawandel zeigt. Doch das ökologische Netzwerk der Erde ist viel zu komplex, als dass wir die langfristigen Folgen unserer Eingriffe in dessen Dynamik zuverlässig einschätzen könnten. Denn diese Dynamik hat oftmals einen nichtlinearen Charakter. Die Besonderheit nichtlinearer Systeme besteht darin, dass sie über relativ lange Zeit gut beherrschbar scheinen. Dann jedoch scheren die Kurven für verschiedene Parameter innerhalb kurzer Zeit aus und nehmen einen exponentiellen Verlauf, was wiederum zu einer Schädigung oder gar Zerstörung des jeweiligen Systems führen kann.

Obwohl es Menschen nachweislich schwer fällt, ein Gespür für nichtlineare Verläufe zu entwickeln, besteht kein Grund für einen ökologischen Fatalismus. Im Gegenteil. Bereits vor 37 Jahren formulierte der Philosoph Hans Jonas in Anlehnung an Immanuel Kant ein neues ethisches Prinzip, das auch als ökologischer Imperativ bezeichnet wird. Es lautet: »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.« Das Anthropozän-Konzept könnte diesem Prinzip eine naturwissenschaftliche Grundlage geben. Denn es führt zahlreiche theoretische Ansätze zusammen, die in der Wissenschaft bislang eher getrennt behandelt wurden. Und es vermittelt uns ein Gefühl für die Dimensionen und Gefahren des globalen ökologischen Wandels, den hauptsächlich der Mensch zu verantworten hat.

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