Kaufen die Deutschen, bis die Kreditkarte glüht?

Der angebliche Konsumrausch in der Bundesrepublik erweist sich bei näherem Hinsehen als Illusion, meint Nicolai Hagedorn

  • Nicolai Hagedorn
  • Lesedauer: 3 Min.

»Mario Draghis Geldpolitik wirkt in Deutschland besonders gut«, erklärte zuletzt der Chefökonom der Liechtensteiner VP Bank, Thomas Gitzel, und wunderte sich direkt selbst über diese Erkenntnis, schließlich sei die deutsche Volkswirtschaft diejenige, »die am wenigsten auf geldpolitische Impulse angewiesen ist«. Jedenfalls sei der private Konsum »einer der zentralen Antriebsmotoren der deutschen Wirtschaft«. Bereits Anfang des Jahres hatte n-tv vermeldet: »Deutsche sind im Konsumrausch« und »Spiegel Online« stimmte ein: »Deutschland in Kauflaune: Konsum steigt so stark wie seit Jahren nicht«. Als Gründe für diese fabelhafte Ausgabenfreude der Deutschen werden vor allem »Rekordbeschäftigung, steigende Löhne und geringere Energiepreise« (n-tv) sowie »niedrige Zinsen, die geringe Inflation und die gute Lage am Arbeitsmarkt« (»Spiegel Online«) angeführt.

Während diese Art der Berichterstattung suggeriert, die Bundesrepublik sei in einer Welt der Krisen und sich abschwächenden Konjunkturaussichten ein Paradies für Lohnabhängige und Konsumenten, bringt ein differenzierterer Blick auf die tatsächliche Entwicklung Ernüchterung. Betrachtet man die Einzelhandelsumsätze der letzten Jahrzehnte, wird schnell klar, dass der Konsum im Jahr 2015 nach wie vor unter dem Niveau von 1990 verharrt. Über 20 Jahre lang hat es demnach keine Steigerung der realen Einzelhandelsumsätze gegeben. Das Statistische Bundesamt berichtete vergangene Woche, die Einzelhandelsumsätze seien im April 2016 real sogar um 0,9 Prozent zum Vorjahr gesunken. Dabei stiegen in einer vergleichbaren Volkswirtschaft wie der französischen allein seit dem Jahr 2000 die Umsätze um über 50 Prozent. Da es im Ländervergleich hinsichtlich der Lohnentwicklung ähnlich aussieht, ist es kaum verwunderlich, dass sich die Franzosen derzeit mit Händen und Füßen gegen die »Merkelisierung« ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik zur Wehr setzen. Fest steht: Weder die Niedrigzinsen, noch die extrem niedrigen Inflationsraten, und auch nicht die niedrigen Energiepreise konnten bisher für den erhofften Aufschwung sorgen, obwohl diese günstigen Faktoren längst wie ein veritables Konjunkturprogramm wirken müssten.

In Deutschland wirkt die mangelnde Nachfrage als Wachstumsbremse, und so wenig sich im Bereich der Umsätze im Einzelhandel etwas bewegt, so wenig tut sich auch am ebenfalls gern bejubelten Arbeitsmarkt. Zwar künden immer neue Erfolgsmeldungen von einer immensen Abnahme der Arbeitslosigkeit hierzulande, jedoch weisen Experten zurecht regelmäßig darauf hin, dass dabei mehrere Millionen Arbeitssuchende gar nicht mitgezählt werden. Doch auch hier führt vor allem die isolierte Betrachtungsweise der Zahlen zu den absurden Fehlinterpretationen. Betrachtet man beispielsweise die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden, so zeigt sich, dass es auch am Arbeitsmarkt die vermeintlichen Wunder nie gegeben hat. Zugelegt haben in erster Linie Teilzeitjobs, während es bei den sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjobs seit Anfang der 1990er Jahre sogar einen Rückgang von drei Millionen Stellen gegeben hat. Dazu liegt die Summe der geleisteten Arbeitsstunden in Deutschland nach wie vor unter dem Niveau von 1991 und auch bei den Löhnen wird das Desaster deutlich: Während sich das Bruttoinlandsprodukt seit Beginn der 1990er Jahre um rund 40 Prozent verbesserte, stieg der reale Nettolohn nur um sage und schreibe rund ein Prozent. Gäbe es den unablässig herbeigeschriebenen deutschen Konsumrausch wirklich, wäre das angesichts der fehlenden Einkommenszuwächse hierzulande jedenfalls tatsächlich ein ökonomisches Wunder.

Für das deutsche Kapital indes bleibt das einseitige Exportmodell ein einträgliches Geschäft - wenn auch für sonst niemanden mehr.

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