Schleifung von Identität?

Volksbühnen-Protest

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Komm ins Offene, Freund! So lockt nicht die Romantik, sondern das Messer - der Einschnitt, die Herausoperation. Dercon ist nicht Hölderlin. Er ist das Messer. Chris Dercon, derzeit Tate Gallery London, wird 2017 Berlins Volksbühne übernehmen. Feindlich, so heißt es allenthalben. Dem Groll, den Berlins Plan für die Nachfolge des Vierteljahrhundert-Intendanten Frank Castorf auslöste, folgte nun ein neuer Donnerschlag. Über 170 Beschäftigte der Volksbühne - Künstlerschaft und Gewerke - schrieben an die Parteien des Berliner Parlaments und an Kulturstaatsministerin Grütters: Nein zu Dercon! Nein zur »Schleifung von Identität!« Der Chef des Berliner Ensembles Chef Peymann schiebt nach: Dercon jetzt schon auszahlen! Das wäre historisch sensationeller Mut: Politik bereut einen Fehler! Dercon erwidert: »Dieses Theater hat in jeder Generation Revolution gespielt - und immer erschienen die Verhältnisse nachher noch beweglicher als vorher.« Es wird weitere Erklärungen geben. Abfedern. Absichern. Abweisen. Ablenken vielleicht auch. Und wir Kommentatoren hängen jetzt alle an Castorf. Auch jene, die beim ihm eher durchhingen. Oder ihn nur als Metapher nahmen, ohne sich mit diesem Theater-Tanker wirklich einzulassen. Das Metaphern-Vokabular: Schmutz, Renitenz, Radikalität. Erhaltenswert, unbedingt.

Es geht bei solchen Protesten immer ums Übertragbare, man darf an Rostock, Wuppertal, an Thüringer und andere Theater denken: Wie einigen sich Systemwert und Systemwechsel? Wie Bewahrung und Bruch? Wie Kommerz und Kunst? Aus dieser Sache Volksbühne keimt jedenfalls eine Lust an Gegenwehr, die es zu selten gibt - hier gegen den Vormarsch einer multimedialen Vernetzungskultur, die mit dem gewachsenen Belegschafts-Bewusstsein, wie es aus der politischen, ästhetischen Geschichte der Volksbühne heraufweht, augenscheinlich nichts mehr anfangen will.

Man bindet also seine Sympathie jetzt mehr denn je ans Antibürgerliche dieser Bühne und möchte zugleich doch nicht zu jenen Lagerkampfgolems zählen, die ja auch in der Politik herumstampfen und zum Beispiel die Worte »SPD« oder »Gabriel« nicht mehr ohne Feinbildschaum ausstottern können. Ja zu einem Wechsel - aber immer erst, wenn der vermeintliche Gegner sich ins Idealtypische der eigenen Gemütsart gewandelt hat? Kulturlos. Wer weiß denn, was Dercon wirklich anstellen, bewegen wird. Das warnende Urteil wider ihn hat so recht, wie es die Nähe zum Vorurteil nicht verhindern kann. »Undeutlich treten neue Sterne ins Haus«, schrieb Brecht.

In der »Berliner Zeitung« sagt der Chef der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, einer der sensibelsten, klügsten Theaterstrategen: Besagter Brief sei »der Versuch, einen Unterschied zwischen der Globalisierung des Kunstmarktes und der Arbeitswelt des Theatersystems hierzulande auszudrücken.« Das ist das Tiefe an diesem Brief: Blick für ein Konfliktfeld, auf dem alle Beteiligten - im gesamten Lande - immer wieder lustvoll angestachelt in gute Unruhe, aber stechend schmerzvoll auch in ungute Unsicherheit geraten. Mal Tanz, mal Taumel. Die Politik freilich: nur Taumel, und selten wieder Stand. Das sorgt für Widerstand.

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