Wird London »möglicherweise nie« den Brexit erklären?

Renzi: Europa hat bei Brexit keine Zeit zu verlieren / Johnson will weiter Zugang zum EU-Binnenmarkt haben / Äußerung von ranghohem EU-Diplomat sorgt für Spekulationen

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Update 17.25 Uhr: Große Nachfrage nach irischen Pässen
Das Brexit-Votum hat im Vereinigten Königreich zu einem steilen Anstieg von Anträgen auf einen irischen Pass geführt. Eine Sprecherin der zuständigen britischen Behörde sagte am Montag, besonders in Nordirland gebe es eine »ungewöhnlich hohe Zahl von Antragstellern«. Diese wollten damit nach Großbritanniens Austritt aus der Europäischen Union sicherstellen, als Iren weiter EU-Bürger bleiben zu können. Alle vor dem 1. Januar 2005 in der britischen Provinz Nordirland Geborenen haben Anrecht auf die irische Staatsbürgerschaft. Das gilt auch für alle, deren Eltern in Irland geboren wurden oder die einen Elternteil haben, der zum Zeitpunkt ihrer Geburt die irische Nationalität hatte. Laut der vom irischen Außenministerium angeführten Volkszählung von 2011 gab es in Großbritannien 430.000 gebürtige Iren.

Update 15.45 Uhr: Nachfolge Camerons soll bis zum 2. September geregelt werden
Die Nachfolge des britischen Premierministers und Chefs der konservativen Tories wird nach Parteiangaben bereits bis zum 2. September geregelt. Das gab die Tory-Partei am Montag in London bekannt. Cameron hatte nach dem Nein der Briten zu einem Verbleib ihres Landes in der Europäischen Union (EU) seinen Rücktritt bis Oktober angekündigt und erklärt, eine formale Austrittserklärung obliege dann seinem Nachfolger.

Bohren und Bremsen nach dem Brexit
Auch vier Tage nach dem Referendum dominiert weiter ein Thema die EU-Agenda: der mögliche Brexit. Doch während manche Politiker vor einer übereilten Abwicklung warnen, fordern andere einen schnellen Austritt.

Update 13.20 Uhr: Wirtschaft rechnet mit Rückgang des Handels mit Großbritannien
Das Ja der Briten zum Austritt aus der EU wird den Handel mit Rheinland-Pfalz nach Ansicht der Industrie- und Handelskammern (IHK) einbrechen lassen. »Der Export wird sicherlich auf Dauer zurückgehen«, sagte Volker Scherer, Sprecher International der IHK-Arbeitsgemeinschaft, am Montag der Deutschen Presse-Agentur. Das werde allein durch die Abwertung des Britischen Pfunds so sein. Waren aus der Euro-Zone werden dann für Briten teurer. Das Britische Pfund geriet am Montag weiter unter Druck. Wenn es wieder Zollschranken gebe, drohe ein weiterer Schwung nach unten, weil der Aufwand für kleinere Unternehmen zu groß sein könne, sagte Scherer.

Update 12.55 Uhr: Italiens Regierungschef drängt Briten zu raschem Austritt
Nach dem Brexit-Votum der Briten hat Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi auf den raschen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union gedrungen. »Europa kann alles tun, außer eine einjährige Diskussion über das Verfahren zu beginnen«, sagte Renzi am Montag vor dem Parlament in Rom. »Wenn sich alles auf eine Diskussion über das Verfahren reduziert, verlieren wir aus dem Blick, was geschehen ist.« Renzi kritisierte, es fehle »das Bewusstsein für den Ernst der Situation«. Europa habe keine Zeit zu verlieren, sondern müsse »sich bewegen«, sagte der italienische Regierungschef, der am Abend in Berlin Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Frankreichs Präsident François Hollande treffen sollte. Am Dienstag kommen dann die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten in Brüssel zum EU-Gipfel zusammen.

Update 12.10 Uhr: Außenminister fordern Debatte der 27 Staaten über Zukunft der EU
Mit einem Krisentreffen in Tschechien haben Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und sein französischer Kollege Jean-Marc Ayrault versucht, den mittelosteuropäischen EU-Staaten Sorgen vor den Brexit-Folgen zu nehmen. »Wir stimmen überein, dass die Debatte über die Zukunft der EU auf einer Plattform stattfinden muss, die alle 27 EU-Staaten umfasst«, sagte der tschechische Außenminister Lubomir Zaoralek nach dem Treffen in Prag. Am Samstag hatten sich die sechs Gründungsstaaten des EU-Vorläufers EWG in Berlin getroffen, um über den bevorstehenden Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union zu beraten. Länder wie Estland fühlten sich davon übergangen. Zaoralek nannte die EU »lebensnotwendig« für sein Land. »Die falsche Antwort wäre eine übereilte Integration, die falsche Antwort wäre aber auch, so zu tun, als ob nichts passiert ist«, sagte er. »Jetzt ist nicht die Zeit für business as usual«, sagte Ayrault.

Update 10 Uhr: Großbritannien will weiter Zugang zum EU-Binnenmarkt haben
Der frühere Londoner Bürgermeister und Brexit-Wortführer Boris Johnson geht davon aus, dass Großbritannien weiter von der Arbeitnehmerfreizügigkeit profitieren wird. Briten würden weiterhin in der Lage sein, in der Europäischen Union zu reisen, zu arbeiten, Häuser zu kaufen und sich niederzulassen, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im »Daily Telegraph«. Auch der freie Zugang zum europäischen Binnenmarkt für Waren und Dienstleistungen werde nicht eingeschränkt, prophezeite Johnson, der als Nachfolger des scheidenden Premierministers David Cameron gehandelt wird. Gleichzeitig werde Großbritannien aber wieder »demokratische Kontrolle über die Einwanderungspolitik übernehmen«. Demnach soll ein »humanes Punktesystem, das an den Interessen von Handel und Industrie ausgerichtet ist«, die Zuwanderung zum Vereinigten Königreich beschränken, so der Politiker. Zudem werde eine substanzielle Geldsumme nicht mehr an Brüssel überwiesen, sondern komme etwa dem britischen Gesundheitssystem zu Gute.

Unterdessen hat der britische Finanzminster George Osborne Forderungen zurückgewiesen, nun auch rasch den formellen Austrittsantrag vorzulegen. Die britische Regierung könne das Verfahren gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags erst »auslösen«, wenn sie dazu bereit sei und »klare Vorstellungen« über den weiteren Weg habe, erklärte Osborne am Montag kurz vor Öffnung der Londoner Börse. »Nur das Vereinigte Königreich kann Artikel 50 auslösen.« Die britische Regierung sollte das aber erst tun, wenn sie eine »klare Vorstellung« von den neuen Regelungen habe, um die sie sich mit den europäischen Nachbarn bemühe.

Wird London »möglicherweise nie« den Brexit erklären?

Berlin. In Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten stehen in dieser Woche weitere Beratungen über das britische Brexit-Votum an. Aber kommt es wirklich zu einem Austritt aus der Europäischen Union? Großbritannien werde diesen Schritt nach Einschätzung eines ranghohen EU-Diplomaten »möglicherweise nie« erklären. »Ich würde nicht ausschließen, und das ist meine persönliche Überzeugung, dass sie es vielleicht nie tun werden«, sagte der Diplomat am Sonntagabend in Brüssel. Er erklärte nicht, ob er davon ausgehe, dass Großbritannien stattdessen ein erneutes Referendum über die EU-Mitgliedschaft abhalten oder aber den Trennungsprozess mit der EU ewig herauszögern werde, um den bestmöglichen Deal für sich herauszuschlagen.

Der EU-Diplomat berichtete, seit dem Brexit-Referendum seien bei der EU tausende E-Mails von Briten eingegangen, die das Ergebnis bedauerten - darunter etliche von Leuten, die für den Ausstieg aus der EU gestimmt hätten und dies nun bereuten. »Das ist das erste Mal nach einem Jahrzehnt der Hass-Mails aus Großbritannien, dass wir mit Liebes-Mails überflutet werden«, sagte er. Nach dem britischen Austrittsvotum drängen zahlreiche EU-Vertreter Großbritannien, rasch das formelle Austrittsgesuch einzureichen. In Brüssel wird jedoch nicht damit gerechnet, dass der britische Premier David Cameron das Gesuch bereits bei dem EU-Gipfel am Dienstag einreicht. Cameron hat seinen Rücktritt bis Oktober angekündigt und will den Schritt seinem Nachfolger überlassen.

Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), hat Großbritannien derweil erneut aufgefordert, nun auch rasch den formellen Austrittsantrag vorzulegen. »Faktisch liegt seit Freitagfrüh der Austrittsantrag auf dem Tisch. Es geht jetzt nur noch darum, wer schreibt wann den Brief«, sagte Roth im ARD-»Morgenmagazin« am Montag. Die Briten und die Europäer hätten »es verdient, dass wir schnell Klarheit schaffen«. Zu der Äußerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), es herrsche keine Eile mit dem Austritt, sagte der SPD-Politiker, es gebe »verschiedene Temperamente« in der Politik, aber im Großen und Ganzen seien die Mitglieder der Bundesregierung »alle einer Meinung«. »Wir brauchen jetzt schnell Klarheit, aber wir haben auch Zeit«, sagte Roth. Der EU-Vertrag sehe vor, dass ein Land zwei Jahre Zeit habe, um die Bedingungen eines Austritts auszuhandeln.

Zugleich warnte Roth, dass die Austrittsverhandlungen schwierig würden. »Die Nationalisten und Populisten haben den Eindruck erweckt, als sei das ein Spaziergang, die Europäische Union zu verlassen, aber es ist ein harter und beschwerlicher Weg für alle Beteiligten.« Allerdings wolle auch niemand die Briten abstrafen, vielmehr wolle die EU auch künftig mit ihnen »eng und freundschaftlich zusammenarbeiten«, sagte der Staatsminister. Den Vorwurf, die politische Führung der EU-Mitgliedstaaten habe nicht nachdrücklich genug in Großbritannien für den Verbleib geworben, wies Roth entschieden zurück. »Wir sollten jetzt keine Märchen erzählen«, sagte Roth. Die britische Regierung habe selbst darum gebeten, Zurückhaltung zu wahren.

Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), warnte die Briten, den Austritt aus der EU herauszuzögern. »Wir erwarten, dass die britische Regierung jetzt liefert«, sagte Schulz den »Ruhr Nachrichten« (Montag). Beim EU-Gipfel werde er klar sagen, »dass wir keinerlei Verständnis für die taktischen Spielchen der konservativen Torys haben, mit denen sie Zeit gewinnen wollen, um ihren innerparteilichen Machtkampf auszufechten«.

In Brüssel berät die EU-Kommission am Nachmittag über Konsequenzen aus dem Referendum, bei dem knapp 52 Prozent der Briten für einen EU-Austritt ihres Landes gestimmt hatten. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini trifft US-Außenminister John Kerry, der am selben Tag in London auch noch mit seinem Amtskollegen Philip Hammond über den Brexit sprechen will. EU-Ratspräsident Donald Tusk kommt zunächst in Paris mit Präsident François Hollande zusammen und trifft danach in Berlin Kanzlerin Angela Merkel. Die deutsche Regierungschefin empfängt danach Hollande und den italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi zu Konsultationen über die Konsequenzen aus der Volksabstimmung. Auch dabei dürfte es vor allem um den Ablauf des Scheidungsverfahrens zwischen der EU und Großbritannien gehen. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier trifft am Montag in Prag mit seinen Kollegen aus Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei zusammen, um über die Folgen des Neins der Briten zur EU zu beraten. In Großbritannien leben und arbeiten Hunderttausende Menschen aus Mittelosteuropa, die nun um ihre Zukunft bangen.

Auch das irische Parlament trifft sich zu einer Sondersitzung zum Brexit-Votum am Montag. Der irische Präsident Michael Higgins reist unterdessen zu einem dreitägigen Besuch nach Schottland. Die Regionalregierung in Edinburgh bereitet sich auf ein mögliches zweites Unabhängigkeitsreferendum vor. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon erklärte am Sonntag, das Regionalparlament Schottlands könnte möglicherweise ein Veto gegen den Austritt Großbritanniens aus der EU einlegen. Gleichzeitig warnte sie, Premierminister Cameron und »jeden zukünftigen Premierminister« davor, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum in Schottland zu unterbinden.

Nach der Rücktrittsankündigung Camerons dürfte zudem das Rennen um die Nachfolge bei den Konservativen an Fahrt aufnehmen. Als Kandidaten gelten der Wortführer der Brexit-Befürworter, der frühere Londoner Bürgermeister Boris Johnson, und Innenministerin Theresa May. Agenturen/nd

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