Die Überlegenheit des Natterfußballs

Die Feuilleton-EM-Kolumne

Die fiese portugiesische Giftnatter hat wieder zugeschlagen - ein allerletztes Mal. Ihre Beute lässt sie stets über eine lange Distanz in dem Glauben, den Kampf noch gewinnen zu können, bis sie effektiv, aber total fad, den einen tödlichen Biss setzt. Ihr Opfer wird dabei im Laufe der Zeit - und mit zunehmender Sicherheit, sich seines unheilvollen Schicksals nicht entziehen zu können - paralysiert.

Nun gehen einem glatt die Metaphern aus für dieses Team. Portugal ist also Europameister und das, obwohl sie im gesamten Turnier nur ein Spiel nach 90 Minuten für sich entschieden haben (atemberaubend, das 2:0 im Halbfinale gegen Wales).

Dieses Finale war mein erstes in einem großen Fußballturnier, bei dem ich bis zum Ende der regulären Spielzeit noch die Wäsche aufhängen konnte und ein 10 000-Teile-Puzzle eines Jackson-Pollock-Gemäldes fertigbekam, ohne Relevantes zu verpassen. Bei der WM 1990 musste ich noch von meinem Vater, der sich eigentlich überhaupt nichts aus Fußball macht, aus dem Bett gerissen werden, nur, um mir Franz Beckenbauers konzentrierten Alleingang, die Hände tief in die helle Pluderhose gesteckt, im Olympiastadion in Rom anzusehen. Dieses Jahr habe ich mir gewünscht, ich hätte eine ähnliche Entscheidung getroffen, also das mit dem Bett.

Nach der 25. Minute, in der Ronaldo mit Motte im Gesicht auf einer Bahre verletzt hinausgetragen wurde - was kein Baseballfilm mit Kevin Costner je an Tragik überbieten könnte -, habe ich mich größtenteils mit dem eigens eingerichteten Twitter-Account der Motte am Kopf von Sissoko beschäftigt.

Am Sonntagabend war plötzlich klar, welche Tragweite das Ausscheiden der Isländer eigentlich entwickelt hat. Ihr Klatschen hat bis zum Viertelfinale wunderbar als Mottenkiller funktioniert. Die französischen Fans, denen man nun tagelang von allen Seiten Einfallslosigkeit vorwarf, haben das Ritual aus der Not heraus übernommen, um die EM im eigenen Land überhaupt zu Ende bringen zu können. Als Dank dann diese Zuschauer-Sedierung bis zur 109. Minute. Wäre der EM-Titel ein umstrittener Gesetzesentwurf, die Portugiesen hätten sich ihn am Sonntag erfolgreich erfilibustert. Selbst nach dem Tor von Éder war alles abseits des Platzes interessanter. Ronaldos Profilneurose verlangt inzwischen nach einem eigenen Musical.

Vielleicht waren die Nachtfalter aber auch Vorboten einer verheerenden Fußballapokalypse, und Mehmet, also Scholl, ist ihr Prophet. Nach dem Spiel verkündete er vom Kommentatorentisch herab, wenn sich die Taktik der Portugiesen als zukunftsweisend herausstellen sollte, sich der Natterfußball also durchsetze, dann wäre das attraktive Spiel, wie wir es kannten, beerdigt. Da Scholls Weissagungen nun erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt haben, seit aus seinem prognostizierten mehrmonatigen Ausfall Ronaldos eine Innenbandzerrung geworden ist, bleibt Zuversicht.

Sollte er doch recht behalten, wird aus der kommenden Europameisterschaft also doch keine Easyjet-EM - bei 13 Spielstätten in 13 Ländern. Es wird keine Zuschauer mehr geben, die sich für 120 Euro ein Spiel in Baku angucken wollen, bei dem die Teams 90 Minuten lang den Ballbesitz zu elft trainieren. Im Fernsehen können sie dann das Ronaldo-Musical in der Wiederholung zeigen, das ist unterhaltsamer.

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