Verliebt in das Verliebtsein

»Ins schwindelige weiterdichten« - Friederike Mayröcker reißt ihre Leser im Strom der Sprache mit

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist ein Schreiben im Exzess, ein Fabulieren und Imaginieren, das weder Anfang noch Ende kennt. Kurzum: In Friederike Mayröckers schier uferlos angewachsenem Œuvre gibt es nur eine Gleichung: Existenz ist Poesie, voll und ganz. Thomas Bernhard nannte sie einst in seinem Abrechnungsroman mit der österreichischen Bourgeoisie, »Holzfällen. Eine Erregung« (1984), hämisch die »Schreker«, die als Sinnbild einer sich selbst überholt habenden Avantgarde firmiert.

Dass die inzwischen 91-jährige Vielschreiberin über mehrere Dekaden hinweg einen Bewusstseinsstrom nach dem anderen hervorbringt, mag zutreffend sein. Da sie aber ihren Erzählkosmos immer weiter vertiefte und dieser nie seinen authentischen Ton verlor, ist er bis heute zu einem unermesslichen Schatz angewachsen.

Mit ihrem jüngsten Band »fleurs«, der zugleich den Abschluss einer sehr persönlichen Trilogie bildet (nach »études« (2013) und »cahier« (2014)), tauchen wir - wie gewohnt - tief in die innere Welt der Autorin ein. Noch einmal zieht ein Leben in wie auf Zetteln flüchtig notierten Erinnerungen an uns vorüber: »1 fluoreszierender April mit Oleanderblüten«, Abschiede wie Erdbeben, Erlebnisse aus der Kindheit, dort ein Blütenwinken, hier ein schalmeiender Duft oder vollgeweinte Seen - »halluzinatorische Stücke von Poesie«. Wie in einem Fotoalbum fügen sich die losen Assoziationen, Synästhesien, die Naturbeschreibungen, Lobreden und Nonsens-Sprachspiele erst in ihrer Gesamtheit zu einem vielschichtigen Mosaikbild.

Stets gilt: »so immerfort schreiben«, »ins schwindelige weiterdichten«, da nur auf diese Weise ein aktives Leben möglich ist. Wenn Mayröckers Suade eines belastet, dann ist dies schon seit vielen Jahren der nahende Tod, verbunden mit zahllosen Verlusterscheinungen, die auch diese faszinierende Miniaturensammlung nicht ausspart.

Allseits droht dem Ich in ihren Notaten der Kontrollverlust. Erinnerungen werden unscharf, stattdessen drängen Träume wildgeworden an die Bewusstseinsoberfläche. Es gibt kein Halten, nur die Reise, welche ausschließlich in der Sprache ihren Anklang findet. Die Äquivalenz »Wanderschaft = Nomadenschaft« steht für eine Poetik der Bewegung, des permanenten Über- und Neuschreibens. Was ihr innewohnt, ist eine Macht, wie sie nur die Lyrik, Mayröckers urtümlichstes Temperament, beherrscht. Wohingegen die Wirklichkeit aus Gesetzen und Grenzen besteht, vermag die poetische Rede Fernes und Entlegenes, Widersprüchliches und Unpassendes zu harmonisieren. So trifft man als Leser auf »Schwäne v. Frühling«, »Religionen v. Schwalben« oder Blüten treibende Gedichte.

Obgleich die Literatur der Wiener Büchnerpreisträgerin immerzu auch als Therapeutikum gedacht werden muss, gibt es Risse, die nicht leicht zu heilen sind: Die der Einsamkeit, der unstillbaren Sehnsucht nach einem Du. Seit dem Tod ihres Lebensgefährten Ernst Jandl im Jahr 2000 ist die Suche nach einem Gegenüber so stark wie noch nie. Neben Krankheit und »konfuse[r] Laune« stellt die Liebe die tragende Säule in »fleurs« dar. Auf die Feier gemeinsamer Spaziergänge und innigster Liebkosung folgt das melancholische Bewusstsein, den anderen nicht halten zu können. Nichts bleibt für die Ewigkeit, nur eine Liebe, die das nie enden wollende Verliebtsein liebt, die im Wort das Herz allen Seins beschwört.

Indem sich Mayröckers Zeilen wie ein milder Sommerregen auf die Haut legen, spüren wir einmal mehr ihre Zärtlichkeit, ihren unverbrüchlichen Glauben an den Zauber der Poesie. »Keinem meiner Werke liegt ein Plan zugrunde. Aber es schwebt mir etwas vor. Eine kristallisierte Sprache und eine Handvoll Träume« - dies genügt, um uns stets aufs Neue in einen Tiefenrausch zu versetzen.

Friederike Mayröcker: »fleurs«. Suhrkamp. 152 S., geb., 22,95 €.

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