Indiens Linke steckt in einer tiefen politischen Krise

Trotz eines Wahlsieges in Kerala sehen viele Wähler und Wählerinnen in den Kommunisten keine Alternative. Die einstige Hochburg Westbengalen ist dafür beispielhaft

  • Stefan Mentschel
  • Lesedauer: 8 Min.

Bittere Armut, massive soziale Ungerechtigkeit, eine religiös-nationalistische und wirtschaftsliberale Zentralregierung: Die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Indien böten der Linken zahlreiche Ansatzpunkte, um Widerstand zu leisten und mit eigenen alternativen Politikkonzepten zu punkten. Doch die Realität sieht anders aus. Die Wahlergebnisse in ihren Hochburgen im Osten und Süden waren in den vergangenen Jahren schlecht. Ihr Einfluss auf Regional- und Bundesebene ging stetig zurück.

So mancher Beobachter hat den Parteien des linken Spektrums schon das Abrutschen in die politische Bedeutungslosigkeit prognostiziert. Umso bemerkenswerter ist es daher, dass die größte linke Partei - die Kommunistische Partei Indiens/Marxistisch (CPI/M) - seit Kurzem wieder den Ministerpräsidenten im Bundesstaat Kerala an der Südwestspitze des Subkontinents stellt. Angeführt von CPI/M-Politbüromitglied Pinarayi Vijayan gelang es der Linken Demokratischen Front (LDF), die Kongresspartei bei den Landtagswahlen im Mai von der Regierung zu verdrängen. Neben der CPI/M gehörten die kleinere Kommunistische Partei Indiens (CPI) sowie neun weitere Parteien dem Wahlbündnis an, das 23 Mandate hinzugewinnen und 91 der 140 Sitze im Landesparlament erringen konnte. Zuletzt hatten die Linken Kerala von 2006 bis 2011 regiert.

»Die Parteien der LDF haben sich im Wahlkampf konsequent gegen die hindunationalistischen Kräfte gestellt«, sagt der Journalist und Historiker Vijay Prashad. Die seit 2014 in Delhi regierende Indische Volkspartei (BJP) von Ministerpräsident Narendra Modi konnte ihren Stimmenanteil zwar auf rund 15 Prozent mehr als verdoppeln. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts errang sie jedoch nur einen einzigen Sitz im Parlament. Der BJP sei es trotz des Einsatzes erheblicher finanzieller Mittel nicht gelungen, im multireligiösen Kerala die Hindu-Karte zu spielen, glaubt Prashad. Viele Menschen hätten sich eher mit Klasse und Kaste identifiziert, was einen Erfolg der Rechten verhindert habe.

Prashad sieht noch einen weiteren Grund für den Erfolg der LDF. »Die Linke hat sich für die Rechte von Arbeitern und Bauern eingesetzt.« Der Kampf für angemessene Löhne und anständige Lebensbedingungen habe im Mittelpunkt der Wahlkampagne gestanden. Gleichzeitig sei die Schwäche des politischen Gegners den Linken zugutegekommen. »Die Verstrickungen der Kongresspartei-Regierung in Korruption und Vetternwirtschaft sind der Bevölkerung nicht verborgen geblieben.« Zudem habe die Kongresspartei Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge geschwächt, ergänzt Prashad. Das indienweit vorbildliche Bildungs- und Sozialsystem sei dadurch in den vergangenen Jahren geschwächt worden. Auch das habe die Menschen aufgebracht.

Der Praxistest für Keralas Linke ist gerade erst angelaufen. Es bleibt abzuwarten, ob sie mit ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik tatsächlich andere Akzente als die Vorgängerregierung setzen kann. Erste Zweifel kamen daran vor wenigen Tagen auf, als Ministerpräsident Vijayan eine neoliberale Harvard-Professorin zu seiner offiziellen Beraterin für Finanzangelegenheiten ernannte. Vijayan selbst umwehen seit Jahren Korruptionsvorwürfe. Doch die LDF-Koalition verfügt über eine stabile Mehrheit, um den aufkommenden Stürmen zu trotzen.

So wichtig der Sieg für die Kommunisten in Kerala ist, so verheerend ist das Ergebnis in Westbengalen. Auch in der einstigen Bastion der indischen Linken wurde im Mai ein neues Landesparlament gewählt. Bereits 2011 waren die Kommunisten in dem östlichen Bundesstaat nach mehr als drei Jahrzehnten von der Macht verdrängt worden. Damals hatte die linke Wahlallianz bei der Abstimmung 171 ihrer Sitze verloren und nur noch 62 der 294 Mandate geholt. Seitdem hält die Partei Trinamul Congress (TMC) unter der charismatischen Ministerpräsidentin Mamata Banerjee in Westbengalen die Zügel fest in der Hand und konnte auch im vergangenen Jahr die Kommunalwahlen deutlich für sich entscheiden.

Die CPI/M hatte sich in Westbengalen nach fünf Jahren in der Opposition leise Hoffnungen auf eine Rückkehr in Regierungsverantwortung gemacht. Gelingen sollte das unter anderem durch eine Wahlallianz mit der Kongresspartei. Doch die Rechnung ging nicht auf: Im neuen Parlament verfügen die linken Parteien nur noch über 32 Mandate, ein weiterer Einbruch um fast 50 Prozent.

Für den Politikprofessor Kamal Chenoy von der Delhier Jawaharlal-Nehru-Universität ist der Grund für die Niederlage der CPI/M und ihrer Partner in Westbengalen klar: »Die Partei hat sich nie ernsthaft mit den Gründen ihrer Wahlniederlage auseinandergesetzt. Zudem hat sie über Jahre hinweg die Basisarbeit vernachlässigt. Auch ihre Rhetorik verfängt nicht mehr bei den Massen.« Die Kommunisten seien für viele Menschen keine politische Alternative mehr, weil sie keine Antwort auf Zukunftsfragen hätten, ergänzt Chenoy.

Der Journalist Kuldeep Kumar stimmt dem zu. »Es reicht einfach nicht, die Politik der Regierung in Delhi zu kritisieren.« Um die Jugend zu erreichen, müssten die linken Parteien Alternativen zur neoliberalen Wirtschaftsordnung entwickeln und auf den Tisch legen. Das hätten CPI/M, CPI und die anderen bislang jedoch nicht getan. Im Gegenteil: Eine weitere Ursache für die Niederlage 2011 in Westbengalen war nach Ansicht von Beobachtern wie Kumar die umstrittene Wirtschaftspolitik von CPI/M-Ministerpräsident Buddhadeb Bhattacharya. Beispiele dafür sind die Ereignisse von Nandigram und Singur.

Im Jahr 2007 ließ die kommunistische Regierung in der Ortschaft Nandigram südwestlich von Kolkata rund 4000 Hektar privates Ackerland enteignen, um eine Sonderwirtschaftszone einzurichten. Die Massenproteste dagegen wurden gewaltsam niederschlagen - 14 Dorfbewohner starben bei den Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften, mehr als 70 weitere wurden verletzt. Ähnliches spielte sich wenig später in Singur nördlich von Kolkata ab, wo 400 Hektar Ackerland für eine Automobilfabrik enteignet werden sollten. Auch in Singur gab es über Monate hinweg Proteste und schwere Unruhen.

Mamata Banerjee und ihre TMC setzten sich damals an die Spitze der Protestbewegung und sorgten mit dafür, dass die beiden Prestigeprojekte der CPI/M-Regierung scheiterten. Bei den Wahlen fügte die TMC Bengalens Kommunisten dann eine Niederlage zu, von der sie sich bis heute nicht erholt haben.

Ein weiteres Problem der indischen Kommunisten ist nach Ansicht von Professor Chenoy die fehlende innerparteiliche Demokratie. Wie schwer sich die Partei mit der Akzeptanz unterschiedlicher Meinungen tut, zeigt der Parteiausschluss der populären Generalsekretärin des Frauenverbandes All India Democratic Women’s Association (AIDWA), Jagmati Sangwan. Frau Sangwan hatte während der Sitzung des Zentralkomitees der CPI/M Mitte Juni heftig gegen die gescheiterte Wahlallianz der Linken mit der Kongresspartei in Westbengalen protestiert und mit ihrem Rücktritt gedroht. Soweit kam es nicht. Wegen »Disziplinlosigkeit« wurde sie kurzerhand aus der Partei ausgeschlossen. Bereits in den vergangenen Jahren waren zahlreiche prominente Mitglieder aus der Partei entfernt worden - zumeist weil sie die Parteiführung kritisiert hatten.

Chenoy kann darüber nur den Kopf schütteln und sagt: »Unter solchen Bedingungen sind ernsthafte innerparteiliche Debatten nicht möglich.« Jahrzehntelang war er selbst Mitglied der CPI. Vor einigen Jahren verließ er die Partei aus Frust über den mangelnden Reformwillen. Mit seinem Austritt, so sagt er augenzwinkernd, sei er wahrscheinlich dem eigenen Parteiausschluss zuvorgekommen. Chenoy schloss sich der Aam Admi Party (AAP) an. Die selbsternannte »Partei der einfachen Leute« entstand 2012 aus einer sozialen Protestbewegung. Sie stand für ein neues Politikmodell in Indien - demokratisch, pluralistisch, nah an der Basis. Getragen von diesen Prinzipien konnte sie beachtliche Erfolge erringen und im vergangenen Jahr unter anderen die Landtagswahlen in Delhi haushoch gewinnen. Heute allerdings sind auch weite Teil der AAP im politischen Mainstream angekommen.

»Die linken Parteien in Indien haben nur eine Chance, wenn sie sich inhaltlich und strukturell reformieren und parteiintern demokratisieren«, weiß Chenoy. Dazu gehören seiner Ansicht nach die Akzeptanz parteiinterner Meinungsvielfalt und die konstruktive Auseinandersetzung damit. Zudem sollten Kampfbegriffe wie »Diktatur des Proletariats« aus den Parteiprogrammen von CPI/M und CPI gestrichen werden, findet er. »Die Kommunisten müssen sich endlich Themen wie Umweltschutz und Geschlechtergerechtigkeit annehmen. Oder anders ausgedrückt: Indiens Linke muss endlich im 21. Jahrhundert ankommen. Andernfalls verliert sie immer weiter an Bedeutung.«

Der Bedeutungsverlust droht inzwischen auch höchstoffiziell bestätigt zu werden. Aufgrund der schlechten Wahlergebnisse in Westbengalen prüft Indiens Wahlkommission, ob der CPI/M der Status als »nationale Partei« entzogen werden muss. Dabei sah das noch vor nicht allzu langer Zeit ganz anders aus. »Mit Westbengalen steht und fällt der Erfolg der Linken auf Zentralstaatsebene«, glaubt der Journalist Subir Bhaumik. »Regieren die Kommunisten in Kolkata, können sie auch in Delhi ihren Einfluss geltend machen. Das haben sie in der Vergangenheit immer wieder bewiesen.« So wäre 1996 der damalige Ministerpräsident von Westbengalen Jyoti Basu fast indischer Premierminister geworden. Nach den Unterhauswahlen im Jahr 2004 unterstützten die 62 linken Abgeordneten die Minderheitsregierung von Premier Manmohan Singh.

Zum Bruch mit der Regierung Singh kam es 2008 im Streit über ein ziviles Nuklearabkommen zwischen Indien und den USA, dem die Kommunisten die Zustimmung verweigerten. Singh suchte sich andere Partner, die Linke wurde nicht mehr gebraucht. Bei den Parlamentswahlen ein Jahr später holten die linken Parteien dann nur noch 24 von 545 Mandaten. Es folgte die verheerende Niederlage in Westbengalen - und seit den Wahlen 2014 sitzen nur noch zehn Kommunisten im Unterhaus. Zwei davon kommen aus Westbengalen, zwei aus dem kleinen Nordoststaat Tripura und sechs aus Kerala.

»Die Linke ist aber noch längst nicht geschlagen«, resümiert Kamal Chenoy. Das habe der Wahlsieg in Kerala gezeigt. Zudem stellten die Kommunisten eine weitere Landesregierung in Tripura. Allerdings dürften sie sich nicht davon blenden lassen. »Denn ungeachtet der vereinzelten Erfolge befindet sich die indische Linke in einer ernsthaften Krise.« Daher müssten die Parteien, allen voran die CPI/M, in den kommenden Monaten und Jahren hart daran arbeiten, ihr Profil zu schärfen. »Kann die Linke strategische Allianzen mit anderen säkularen Parteien gegen die hindunationalistische BJP schmieden? Können die linken Parteien modernisiert und demokratisiert werden? Können sie das Tempo der Modernisierung mithalten?«, fragt Chenoy. »Die Antworten darauf werden das Schicksal der Linken und die Zukunft der säkularen Demokratie in Indien mitentscheiden.«

Unser Autor leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Neu-Delhi.

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