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Abschiebehaft wird Normalfall
Analyse: Zahl der Betroffenen stieg seit 2021 um 63 Prozent
Die korrekte Inhaftierung von Ausländern, die in ihr Herkunftsland oder einen EU-Staat »rückgeführt« werden sollen, ist eine Wissenschaft für sich. Denn eigentlich ist das Einsperren von Menschen, die keine Straftat begangen haben, die »Ultima Ratio«. Freiheit ist schließlich ein Grundrecht, und Abschiebungshaft betrifft nur nicht straffällige Personen.
Hannah Franz von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Uni Hamburg hat jetzt eine Auswertung zur Entwicklung der Zahl der Abschiebungen im Verhältnis zur Abschiebungshaft in jüngster Vergangenheit vorgelegt. Demnach ist die Zahl der Inhaftnahmen im Zeitraum von 2021 bis 2024 um rund 63 Prozent von rund 3800 auf 6200 gestiegen. Zugleich besteht kein direkter Zusammenhang zwischen der Zahl der Rückführungen und jener der Internierungen. Außerdem erfolgte nur in vier von fünf Fällen aus der Haft die Abschiebung.
Wie viele Straftäter aus dem Gefängnis heraus abgeschoben wurden, ließ sich nicht ermitteln, sagte Franz bei der Vorstellung ihrer im Auftrag des Mediendienstes Integration erstellten Expertise am Montag.
In dem Papier analysierte sie auch die insgesamt sechs Gesetzesverschärfungen der letzten zehn Jahre im Migrations-, Asyl- und Aufenthaltsrecht mit dem Ziel, die Inhaftnahme von Ausreisepflichtigen zu erleichtern. Zuletzt geschah das 2024 durch das »Gesetz zur Verbesserung der Rückführung« der Ampel-Koalition. Damals wurden zusätzliche Haftgründe in das Aufenthaltsgesetz aufgenommen und die Anhaltspunkte für Fluchtgefahr im Rahmen der sogenannten Dublin-Überstellungshaft erweitert. Diese kann angeordnet werden, wenn ein anderes EU-Land für die Bearbeitung des Asylantrags eines Betroffenen zuständig ist. Sie kann sechs bis zwölf Wochen dauern.
»Abschiebungshaft kann nicht angeordnet werden, um die Ausreisewilligkeit zu erzwingen.«
Hannah Franz Fakultät für Rechtswissenschaft der Uni Hamburg
Der Ausreisegewahrsam kann demgegenüber nur kurzfristig angeordnet werden, wenn die Umsetzung einer bereits terminierten Abschiebung gesichert werden soll. Sie darf eigentlich nur bis zu 28 Tage dauern. Am längsten können Menschen in sogenannter Sicherungshaft festgehalten werden. Sie kann bei Fluchtgefahr und nach einer unerlaubten Einreise verhängt werden. Mittlerweile darf sie für bis zu sechs Monate angeordnet – und auf bis zu eineinhalb Jahre verlängert werden. Dagegen darf eine »Zurückschiebungshaft« nur maximal drei Tage dauern. Sie wird im grenznahen Raum gegen Menschen verhängt, die bei einem unerlaubten Grenzübertritt aufgegriffen wurden.
Franz erinnerte an das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das klargestellt hat, dass vor der Inhaftierung nahezu ausnahmslos eine richterliche Anordnung vorgeschrieben ist. Außerdem dürfe die Haft niemals angeordnet werden, um die »Ausreisewilligkeit zu erzwingen«.
Der Mediendienst Integration hatte zum Pressegespräch auch zwei Fachleute eingeladen, die aus der Praxis der Rückführungen und »freiwilligen Ausreisen« berichteten. Engelhard Mazanke, Direktor des Berliner Landesamtes für Einwanderung, betonte, dass in der Hauptstadt die allermeisten Menschen ohne Aufenthaltstitel zur »freiwilligen Ausreise« bewegt werden. Denn nicht nur Abschiebehaft, sondern auch die Abschiebung müsse die Ultima Ratio sein, betonte er.
Die freiwillige Ausreise hat den Vorteil, dass eine spätere Wiedereinreise etwa im Rahmen eines Programms zur Fachkräfteeinwanderung leichter möglich ist. Dagegen wird bei einer Abschiebung meist ein langjähriges Einreiseverbot verhängt. Mazanke zufolge wurden aus Berlin in diesem Jahr bislang 1700 Rückführungen vollzogen. Diesen standen 15 000 freiwillige Ausreisen gegenüber.
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Mazanke zufolge hat Berlin aktuell weniger als zehn Abschiebehaftplätze. Der Behördenchef betonte aber, die nun geplante Ausweitung der Haftkapazitäten nütze wenig, wenn er keine Pässe für Personen habe, die abgeschoben werden sollen.
Franca Röll, im Regierungspräsidium Karlsruhe unter anderem für die Abschiebungshafteinrichtung in Pforzheim zuständig, beteuerte, dort werde »immer das Ultima-Ratio-Prinzip« beachtet. Man beschränke sich in Pforzheim auf das »geringstmögliche Maß« bei der Haftdauer. 2024 habe diese durchschnittlich 23 Tage betragen. Zudem würden keine Familien mit minderjährigen Kindern in Haft genommen. Inhaftiert würden etwa Personen, die sich »auffällig oder aggressiv« gegenüber Behördenmitarbeitern verhalten oder die sich bei einem früheren Abschiebeversuch »renitent gezeigt« hätten.
Die Zahl der Abschiebungen ist in den ersten drei Quartalen 2025 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um ein Fünftel auf 17 651 gestiegen, wie das Bundesinnenministerium Ende Oktober auf eine Anfrage der Linksfraktion mitteilte.
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