Das umgekehrte Fulda-Gap

Bundeswehr an der Achillesferse der NATO

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.
Im Moment überlagern Terrorattacken ein anderes brisantes Thema: den NATO-Aufmarsch im Osten. Der jedoch läuft. Planmäßig. Auch wenn Generalstäblern heimlich die Haare zu Berge stehen.

Nein! Vieles im Osten mag zwar so aussehen, doch da beginnt kein zweiter Kalter Krieg, sagen NATO-Verantwortliche. Und auch der Generalsekretär der Allianz, Jens Stoltenberg, erklärt: »Der Kalte Krieg ist Geschichte, und er sollte Geschichte bleiben.« Worauf gründet sich der Glaube, dass die neue Art der nordatlantischen Vorneverteidigung nicht zu einem Fiasko wird? Die Antwort von höchsten NATO-Militärs lässt staunen: Weil das Kräfteverhältnis ein ganz anderes als im vergangenen Kalten Krieg ist. Vor drei Jahrzehnten standen sich Machtblöcke gegenüber, heute aber stehe Russland ganz allein gegen die unbezwingbare NATO. Putins Land sei wahrlich nicht so stark, wie der Präsident es darstelle.

Kein Kalter Krieg also. Heißt das, kein heißer ist zu befürchten? Hier und da - alles nur Säbelrasseln ohne Furcht vor der letzten Konsequenz? Die NATO wolle den Ernstfall nicht, sei jedoch vorbereitet, betonen zunehmend auch deutsche Generale, die sonst eher als die bedächtigen gelten. Im offiziellen Gespräch bleiben auch sie bei der in der Allianz vereinbarten Sprachregelung: Die NATO hat auf ihrem Gipfel in Warschau die notwendige, aber maßvolle Vorsorge getroffen. Alles weitere liegt in Moskau.

Putin hat mit der Besetzung der Krim und der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine das Vertrauen des Westens verloren, betont die NATO in verschiedenen Variationen. Gerade für die deutsche Russland-Politik sei die Krim-Aktion »eine strategische Überraschung« gewesen. Russland müsse »wieder als Bedrohung wahrgenommen werden«. Man könne nicht anders, als »im Bündnis angemessen darauf zu regieren«.

Der wohl wichtigste Beschluss beim jüngsten NATO-Gipfel in Warschau ist die vorgeschobene Stationierung von vier NATO-Kampfbataillonen. Man wolle so transparent die Solidarität des Bündnisses unter Beweis stellen und verletze dabei nicht bestehende NATO-Russland-Absprachen. Laut denen verzichtet die NATO auf die dauerhafte Stationierung signifikanter Streitkräfte in den östlichen Mitgliedsstaaten. Gut 4000 Mann, die aus anderen Bündnisstaaten kommen, werden also zusätzlich unweit der russischen Grenze stationiert. Die meisten im Rotationsverfahren. Was ist daran bedrohlich? Selbst russische Generale lächeln über diesen militärischen Stolperdraht - weil sie gar nicht vorhaben, ihn zu überwinden.

Das US-geführte Bataillon wird in Polen operieren, Großbritannien baut Abwehrpositionen in Estland auf, Kanada erledigt das in Lettland, Deutschland ist in Litauen verantwortlich dafür, dass NATO-Land unantastbar bleibt. Es ist, so hört man aus berufenem Munde, vor allem Deutschland zu danken, dass es bei der Stationierung von Bataillonen bleibt. Die drei baltischen Staaten und vor allem Polen fordern noch immer die Entsendung von vier Brigaden.

Neben der politischen Motivation, Russland nicht zu sehr zu provozieren, gibt es eine weitere Überlegung, die einen größeren Truppenaufmarsch nicht sinnvoll erscheinen lässt. Dabei geht es ums eigene Überleben.

Militärs denken bei ihren Planspielen das zu Ende, was Politiker anrichten können. Und dabei haben die NATO-Planer einen kleinen polnischen Ort namens Suwałki im Blick. Verbindet sich der Name mit dem englischen Begriff Gap, also Lücke, so stellen sich bei westlichen Militärs die Nackenhaare auf. Denn da ist er doch wieder, der Gedanke an den gerade heil überstandenen Kalten Krieg zwischen Ost und West. Nur sind die Vorzeichen umgekehrt.

Der Begriff Suwałki-Gap erinnert an das Fulda-Gap. Diese Lücke zwischen zwischen Hanau und Gießen, zwischen Mellrichstadt und Witzenhausen galt den NATO-Strategen zwischen den 50er und 80er Jahren als Urquell eines Dritten Weltkrieges. Hier wurde das Angriffsgebiet des Warschauer Vertrages vermutet. Hier, so die Befürchtung, wäre »der Russe« durchgebrochen und hätte sich rasch bis ins Rhein-Main-Gebiet vorgedrängt. Speziell unter dem US-Präsidenten Ronald Reagan verstärkten die USA ihre Truppen an diesem Teil der Grenze zur DDR, um im Fall dass ... den Sack zumachen zu können.

Suwałki ist rund 1200 Kilometer von Fulda entfernt und liegt in der wenig besiedelten Woiwodschaft Podlachien. Knapp 70 000 Menschen leben in der Stadt. Suwałki bietet die einzige Landverbindung zwischen Polen und den baltischen Staaten. Das Tor misst nur gut 100 Kilometer. Im Norden ist es durch die russische Exklave Kaliningrad begrenzt, im Süden stößt es an Belarus, einen getreuen Verbündeten Moskaus. Sagt man den Bundeswehrsoldaten, die nach Litauen geschickt werden, dass sie ihren Kopf am gefährlichsten Zipfel der NATO hinhalten sollen?

Die Suwałki-Lücke ist der Grund dafür, dass die NATO im Ernstfall die baltischen Staaten samt der drei dort jetzt zu stationierenden Kampfbataillone nicht halten könnte. Die simple Logik erschließt sich bei einem Blick auf die Karte. In zwei Tagen wäre das Gebiet durch russische Truppen abgeriegelt. Natürlich spricht Moskau bei seinen Übungen nie von einem möglichen Angriff auf die kleine NATO-Landverbindung zwischen Polen und das durch die Bundeswehr verstärkten Litauen. Vielmehr ist die Rede davon, dass Russland keinen Angriff auf die Exklave Kaliningrad zulassen werde. Doch wird schnell klar, wie sehr sich Moskau um die offensive Verstärkung seines Vorpostens bemüht. Offen redet man über die Aufstockung motorisierter Verbände. Wie effektiv und weiträumig S400-Flugabwehrraketen einsetzbar sind, zeigt Moskau nicht von ungefähr gerade in Syrien. Auch die dort für präzise Schläge eingesetzten »Kalibr«-Flugkörper unterstützen NATO-Realitätssinn. Zudem stehen in der Exklave »Iskander-M«-Raketen, die keine US-amerikanischen Abwehrsystem fürchten müssen.

Auch personell wird auf russischer Seite einiges geordnet. Jüngst entließ man 50 der höchsten Befehlshaber der baltischen Flotte, weil sie die Gefechtsbereitschaft der Truppen nicht ausreichend gesichert haben. Darunter waren operative Kommandeure der Kaliningrader Truppen. Für die NATO war auch das ein deutliches Signal dafür, dass sich Putin höchstselbst um den Zustand der Truppen in und um Kaliningrad kümmert.

Was derzeit in diesem Gebiet stationiert ist, würde für die notwendige Überlegenheit ausreichen. Hoffnungen, die NATO-Truppen auf dem Seewege zu versorgen, sind im Fall dass ... eine Illusion. Auch die Lufthoheit wäre eindeutig aufseiten der Russen. Die NATO wäre nicht in der Lage, Verstärkung nachzuführen, geschweige dass sie den Rückzug gen Westen antreten könnte. Ihr bliebe nur eine Option: der Einsatz von Atomwaffen. Die lagern unter anderem in Büchel beim Jagdbombengeschwader 33, das die US-Vernichtungswaffen zum jeweiligen Abwurfplatz fliegen soll. Derzeit werden sie modernisiert. Dass der Konflikt sich beim Einsatz taktischer Kernwaffen territorial und in seinen Ausmaßen begrenzen ließe, ist eine Annahme, die durch nichts gerechtfertigt ist - wie man aus der Auswertung des vergangenen Kalten Krieges weiß.

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