Über uns Himmel, unter uns Berge

Mit Kind zu verreisen öffnet die Augen: Vater und Sohn im Ötztal

Kinder lieben Abenteuer. Alle Kinder, ausnahmslos - sogar, wenn der eigene Vater weniger mutig ist, als es der Sprössling eigentlich annehmen muss. »Schön, Papa!« ruft also mein Sechsjähriger verzückt, während er durch das Flugzeugfenster hinabschaut. Landeanflug auf Innsbruck, grünbewachsene Bergwände ragen so hoch, dass kaum noch Himmel zu erkennen ist. Eine Modelleisenbahnwelt breitet sich unter uns aus: Häuser und Straßen, Wälder und Wiesen, Felsen und Bäche. Pittoresk.

»So schön!« wiederholt der Kleine voll Inbrunst. Die Sitznachbarn schmunzeln. »Ja, wirklich schön«, stimme ich zu und mühe mich derweil zu verdrängen, was ich im Internet über den Flughafen gelesen habe: Einst zählte Innsbruck wegen des schwierigen Westanflugs zu den fünf gefährlichsten Flughäfen der Welt. Das Inntal ist ein Föhntal, seine Thermik kompliziert. Nachdem ein englisches Passagierflugzeug hier 1964 an einer Wand zerschellte, dürfen nur speziell trainierte Piloten Innsbruck anfliegen. Immerhin: Seither ist nichts Schwerwiegendes mehr passiert.

Infos

Ötztal Tourismus: Tel.: +43 57 200 www.oetztal.com

Greifvogelpark: www.greifvogelpark.at

Ötzi-Dorf, archäologischer Freilichtpark: www.oetzi-dorf.at

Touristische Infos Österreich: www.austria.info

So soll es bleiben. »Willst Du einen Bonbon lutschen gegen die Ohrenschmerzen?« Kopfschütteln. Stattdessen blickt das Kind gebannt nach draußen. Ruckelnd setzt die Propellermaschine auf. »Ich hab gar keine Angst gehabt«, sagt der Kleine, als er den Gurt löst. Er ist froh und ich auch, schließlich ist heute der erste Flugtag seines Lebens. Mit der Anreise aus der Luft zu Beginn dieser Vater-Sohn-Tour ins Ötztal haben wir also gleich einen Volltreffer gelandet.

Im Örtchen Oetz angekommen, erfreut die zwei Berliner das leerste Freibad, das wir je erlebt haben. Weil es gewittert hat, haben wir quasi das gesamte Schwimmbad Oetz für uns. Unwirklich blau liegt es vor der Alpenkulisse. Irgendwann trauen wir uns auch auf die Rutsche: Nur liegend, den Rücken zum Hohlkreuz gekrümmt, kann ich ich richtig schnell werden, lerne ich auf der großen Rutschbahn. Und die Füße legt man überkreuz, nur so geht’s wirklich schnell nach unten. Juchzend sausen wir abwärts.

Später gehen Vater und Sohn die Geschichte des berühmtesten Ötztalers durch: Ötzi - jenes Jägers, der hier vor 5000 Jahren durch die Alpen streifte, ehe ihn ein Pfeil mit Kupferspitze in der Schulter traf und tötete. Sein mumifizierter Leichnam tauchte im heißen Sommer 1991 aus dem Gletschereis wieder auf, in dem er versunken war. Eine Sensation.

Doch weil Ötzi ein paar Dutzend Meter südlich der Grenze zu Italien im Gletschereis gefunden wurde, wurde er nach jahrelangem Streit schließlich zu italienischem Eigentum erklärt. Seit 1998 haben die Südtiroler Ötzi in Verwahrung: bei minus sechs Grad in einer Kühlkammer in Bozen. Den Ötztalern bleibt vom Weltruhm des Steinzeitjäger vor allem der Name. »Ötzi«, das spricht sich so viel leichter als der »Mann vom Tisenjoch« oder gar »die Mumie vom Similaun«.

Der Name sorgt für Umsatz: Mehr als 30 Kilometer Luftlinie entfernt vom Fundort der Mumie haben die findigen Ötztaler ihr »Ötzidorf« errichtet. Ein archäologischer Freilichtpark mit Schamanenhütte, Kornspeicher, Lehmofen, Wollhaarschweingehege und Steinschlagplatz: Bei der (kostenlosen) Führung erfährt man, wie mit Pyrit und Zunder Feuer gemacht wurde und dass die Steinzeitler schon Akkupunktur kannten. Während ich interessiert zuhöre, zeigt sich der Sechsjährige wenig beeindruckt: Er erklettert lieber die umliegenden Felsen und sammelt Steinchen. Oder streicht dem Auerochsen übers Horn, der auf artistische Weise den Kopf durch das Gatter gehoben hat.

In einer Mischung aus Faszination und Ekel bestaunen Vater und Sohn schließlich die originalgetreue Nachbildung des Ötzi-Fundortes - samt gemaltem Alpenpanorama und lebensgroßer Plastikmumie in künstlichem Eis. Befremdlicher Tatorttourismus. Dass der Fetisch um einen Leichnam hier eindeutig übertrieben wurde, deckt das Kind mit einer einzigen klugen Frage auf: »Papa, wieso soll man sich das angucken?« fragt er. Hier fällt dem Vater keine schlaue Antwort mehr ein.

Nur ein paar Gehminuten entfernt liegt dann der Ort, der mein Kind doch noch für Umhausen einnehmen kann: In dem Amphitheater des neu eröffneten Greifvogelparkes begeistern nicht nur Falken, Eulen, Raben und Bussarde mit ihren Flügen die Besucher, sondern auch ein Weißkopf-Seeadler: Der gehört zu den Lieblingstieren meines Sohns, gleich nach Tiger, Gepard und Luchs. Der König der Vögel segelt heute allerdings nur wenig majestätisch über die Köpfe der Zuschauer. Er wirkt bemüht. »Das Klima ist drückend, die Thermik schlecht, da haben auch unsere Vögel Probleme, liebe Zuschauer«, wirbt der Falkner um Verständnis.

Manche Zuschauer in dem malerischen Amphitheater ziehen nach dieser Ansage aus den oberen Reihen nach unten um. Auch wenn die Falknerei schon seit Jahrtausenden betrieben wird: Raubvögel mit Flugproblemen sind ihnen suspekt. Als schließlich wirklich ein Turmfalke auf der grünen Schiebermütze eines Zuschauers landet, jauchzt mein Sohn in heller Schadenfreude auf. Vor allem, weil der Falke die Krallen nicht aus der Mütze bekommt und noch einen kleinen Tanz auf dem Kopf des lachenden Mannes vollführt. Kurz danach verspüren wir selbst die Flügelspitzen eines Milans an unseren Köpfen, und mein vorlauter Sohn rutscht lieber auf meinen Schoß. Angst? »Nein, hier sehe ich besser«, flunkert er. Ich geb ihm einen Bussi auf den Hinterkopf.

Am Nachmittag führt uns unsere Tour dann bergan: Zwei Stunden Fußmarsch entfernt von Umhausen liegt der Piburger See, der der wärmste See der Umgebung sein soll. Seine 23 Grad sind für einen Bergsee auf 913 Meter Höhe eher ungewöhnlich. Allerdings verdankt der See seine Beliebtheit wohl nicht nur seiner Wohltemperiertheit sondern vor allem seiner Lage: Dunkelgrün schimmert er zwischen Bäumen und den umliegenden Wiesen hervor. Ein Wanderweg führt ringsumher, schon 1929 ist er zum Naturschutzgebiet erklärt worden. In sanftem Tempo rudern Badegäste in alten Holzkähnen über den See. Die Badestelle hat eine kleine Insel, von der man ins Wasser springen kann. Ehe ich im Wasser bin, ist mein schwimmflügelbewehrter Sohn schon dort drüben angekommen. »Komm rein Papa, ist gar nicht kalt!«

Wir baden und rudern. Eine Einheimische erzählt, dass die schöne Villa am gegenüberliegenden Ufer des Sees seit zehn Jahren zum Verkauf steht: Für drei Millionen Euro, plus geschätzt eine Million zum Renovieren. Wir staunen und malen uns aus, wie es wäre, dort oben zu wohnen, über dem See. Am Ende des Tages essen wir im Strandrestaurant, Schnitzel mit Pommes fürs Kind, für den Vater gebratene Forelle, direkt aus dem See. Satt und zufrieden schauen wir übers Wasser, auf dem es leise regnet. Darunter sieht man die Forellen schwimmen. Könnte es uns besser gehen? In diesem Moment nicht vorstellbar.

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