Eiserne Faust

Die Geburt des Türkismus.

  • Mario Pschera
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Türkei ist aufzugliedern in 1. Regionen, in denen eine Ansiedlung kulturell türkischer Bevölkerung erwünscht ist, 2. Regionen, in denen eine Besiedlung durch eine Bevölkerung, die in die türkische Kultur zu assimilieren ist, erwünscht ist, 3. Regionen, die aus militärischen, ökonomischen, politischen und Gründen der öffentlichen Hygiene zu evakuieren sind und deren Wiederbesiedlung verboten ist.« So hieß es im Gesetz No. 2510, dem Umsiedlungsgesetz, das die Große Nationalversammlung am 14. Juni 1934 beschloss. Es sollte gegen alle Minderheiten zum Einsatz kommen, die an ihrer Sprache, ihren Gebräuchen und Namen festhielten und gegen zwei Prinzipien der jungen türkischen Republik verstießen: Revolutionismus als umfassende Modernisierung und Nationalismus als Bekenntnis zum Türkentum.

Vorangegangen war dem Gesetz 1930 eine Inspektionsreise des Generalstabschefs Fevzi Çakmak (der später zu den Gründern der Nationalpartei, Vorläuferin der faschistischen MHP, gehörte) in den mehrheitlich von Zaza und Kurden besiedelten Dersim. Da diese keine Steuern zahlen würden, sich vor dem Wehrdienst drückten und Waffen trügen, schlug er die exemplarische Bombardierung ihrer Dörfer vor. Tatsächlich wurden einzelne Dörfer niedergebrannt und dort alle waffenfähigen Männer getötet. Ein Jahr später schlug Innenminister Şükrü Kaya einen Zweistufenplan zur Durchsetzung der staatlichen Gewalt, Schulbildung und Türkisierung der Bevölkerung vor. Der Dersim solle sich vom Stammesrecht und der Herrschaft der tribalen wie religiösen Führer lösen, Straßen und Schulen sollten gebaut, die Region in die Moderne geführt werden.

Anfang 1936 wurde der Dersim in Tunceli - Eiserne Faust - umbenannt, das gleichzeitig in Kraft getretene Gesetz gab dem Militärgouverneur alle Vollmachen, auch zur Verhängung und Vollstreckung von Todesstrafen und zu Zwangsumsiedlungen. Die Provinz wurde dem Kriegsrecht unterworfen und im Winter 1936/37 durch Soldaten abgeriegelt. Die hundert Stämme des Dersim sahen darin eine Bedrohung ihrer Eigenständigkeit, einige reagierten mit Überfällen auf Polizeistationen und Militärstützpunkte. Daraufhin wurden die Dörfer aus der Luft angegriffen. Verhandlungen, die der Führer der Rebellen, Seyit Rıza, anbot, lehnte Gouverneur Alpdoğan ab.

Im Sommer 1937 eskalierte der Konflikt. Zugleich wurden unter den aufständischen Stämmen alte Rechnungen beglichen. Köpfe des Widerstandes starben durch Verrat aus den eigenen Reihen. Seyit Rıza wurde wie etliche andere Stammesführer nach einem Schnellverfahren hingerichtet. 1938 kam es zu regelrechten Massakern an Aufständischen und Zivilisten. Ganze Dörfer wurden ausradiert. Sogar beteiligte Militärs sprachen später von Gräueltaten, derer sie sich schämten. Gezählt wurden die Toten nicht. Verschiedene Quellen gehen von 10 000 bis 70 000 Opfern aus. In der offiziellen Geschichtsschreibung kamen die Massaker nicht vor, und der Völkerbund betrachtete die Vorfälle als innertürkische Angelegenheit. Erst 2011 sprach Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan öffentlich von einem der dunkelsten Kapitel türkischer Geschichte. Keine Selbstverständlichkeit, denn der eliminatorische Nationalismus hatte eine lange Tradition und der »Türkismus« wurzelt tief in der Gesellschaft.

Als dessen Begründer gilt der Soziologe und Politiker Ziya Gökalp, der kulturelle, religiöse und nationale Homogenität als Grundvoraussetzung eines modernen Nationalstaates betrachtete. Das zerfallende Osmanische Reich sollte durch die Schaffung einer bürgerlichen türkischen Nation als ein Amalgam westlicher und östlicher Zivilisation erneuert werden. Sein Nationalismus grenzte sich vom völkischen der Europäer ab, verstand sich als Kulturnationalismus, der seine stärksten Pfeiler im Islam und im Türkentum habe. Dieser war nicht auf die anatolische Bevölkerung beschränkt, sondern schloss Krimtataren, bulgarische Türken und die Turkvölker des Kaukasus und Mittelasiens ein.

Diesen Pantürkismus lehnte Mustafa Kemal Atatürk, Vater der modernen Türkei, strikt ab. Vor allem unter den Jungtürken, einer revolutionär-demokratischen Bewegung der gebildeten Schichten, die 1909 den Sultan stürzte, war der Nationalismus populär - indes eher als eine Adaption des französischen und deutschen, der die Normierung und Homogenisierung der Bevölkerung durch Schule, Militär und Verwaltung vorantrieb. So wurden im späten 19. Jahrhundert in Frankreich die Sprachen der Minderheiten verboten und in Deutschland Sorben und Wenden, Tschechen und Polen »germanisiert«. In Elsass-Lothringen zwang man die zweisprachige Bevölkerung, sich zum Deutschtum zu bekennen oder die Heimat zu verlassen.

Nach dem Militärputsch 1913 verloren die sozialistischen und linksliberalen Intellektuellen der Jungtürken, die früh schon enge Kontakte zur SPD pflegten, an Einfluss auf die Bewegung. Der rechtsnationalistische Flügel wurde emsig von deutschen Politikern und Publizisten wie Friedrich Naumann (nach dem die FDP-nahe Stiftung benannt ist) unterstützt, da man sich von jenem eine bessere Durchsetzung deutscher Wirtschaftsinteressen versprach. Weshalb Berlin auch nicht intervenierte, als die jahrzehntelangen Verfolgungen, Vertreibungen, Zwangsassimilierungen und Pogrome gegen Minderheiten (Perser, Griechen, Lazen, Juden, Assyrer, Kurden, Tscherkessen, Araber) im Genozid an den christlichen Armeniern 1915/16 gipfelten.

Zwar wurde 1919 dafür das Triumvirat der Paschas - Innenminister Mehmed Talaat, Kriegsminister Ismail Enver und Marineminister Ahmed Cemalin - in Abwesenheit zum Tode verurteilt (sie entkamen auf einem deutschen U-Boot), doch der Großteil der beteiligten Militärs, Gendarmen und Beamten konnte auch nach der Ausrufung der Republik 1923 durch Atatürk unbehelligt Karriere machen. Für Linke und Liberale versprach das kemalistische Programm einen Weg zum Wandel des Landes in ein fortschrittliches und soziales Gemeinwesen. Doch zur Durchsetzung gegen vermeintliche und tatsächliche Widerstände setzten die neuen Eliten, die sich aus den alten rekrutierten, auf den repressiven Staat.

Emanzipatorischer Nationalismus war nach den verlorenen Balkankriegen 1912/13 und der Demütigung durch die Entente nach dem Ersten Weltkrieg zu einem kleingeistig-rachsüchtigen mutiert, der sich von inneren und äußeren Verschwörern gegen das Türkentum umzingelt sah. Nationalstolz wurde Kompensation für die halbherzige Modernisierung, Armut und Kasernenhofkapitalismus.

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