Walids seltsame Familie

»Jugendliche ohne Grenzen« kämpfen weiter um ein humanitäres Bleiberecht

  • Marina Mai
  • Lesedauer: 6 Min.
»Kommst Du mal?« Walid Chahrour legt seinen großen Arm väterlich auf die Schulter von Katjaya. Das zwölfjährige blonde Mädchen mit der Zahnspange stellt sich zu den beiden anderen. Katjaya stammt aus Kosovo, die anderen beiden sind 19 und 22 Jahre alte Kurdinnen aus der Türkei. Der Mann vom Grips-Theater kündigt per Megaphon an, dass Walid und die drei Mädchen jetzt hinübergehen werden zum Innenministerium. »Sie sind unsere Delegation«, ruft er unter dem Beifall der Demonstranten. Berlin, Alt Moabit, Ende September. Hier, auf ihrer Seite der Straße, demonstrieren der Flüchtlingsrat, Kirchen und das Grips-Theater für ein Bleiberecht für Flüchtlinge, die seit Jahren perspektivlos in Deutschland leben. Gegenüber, im Bundesinnenministerium, berät Hausherr Wolfgang Schäuble (CDU) mit den Innenministern mehrerer Bundesländer soeben über dieses Thema. Im November schließlich werden die Innenminister auf ihrer Konferenz in Nürnberg endlich ein humanitäres Bleiberecht für langjährig in Deutschland lebende Flüchtlinge beschließen. Heraus kommt ein Kompromiss, von dem voraussichtlich nur sehr wenige profitieren. Walid und viele betroffene Jugendliche fahren wieder mit nach Nürnberg, wie schon zu den zwei vorausgegangenen Innenministerkonferenzen. Mit originellen, einfallsreichen Aktionen kommen die Demonstranten sogar ins Fernsehen. Unter den 16 Landesinnenministern küren sie Bayerns Günther Beckstein (CSU) als den »Abschiebeminister« Deutschlands. Preis: Abschiebung nach Kabul und einen Koffer mit dem Allernötigsten. Natürlich nur symbolisch. Die Kinder sind ja keine Unmenschen. Die Zeiten, in denen Walid Chahrour, der inzwischen deutscher Staatsbürger ist, selbst noch kein Bleiberecht hatte, liegen lange zurück. 16 Jahre war er alt, als der in einem palästinensischen Flüchtlingslager in Beirut aufgewachsene Junge nach Berlin kam. Ganz allein. Christlich-konservative Fundamentalisten hatten während des Bürgerkrieges 1975/76 das Lager dem Erdboden gleichgemacht. Viele seiner Klassenkameraden, eine Tante und ein Großvater waren bei dem Massaker umgekommen. Walid, Ältester von zehn Geschwistern, war von seiner Familie ausgesucht worden, mit den geringen Ersparnissen in die Freiheit zu reisen. Zumindest einer von ihnen sollte sicher überleben. Über die DDR kam der Junge nach West-Berlin. »Mein Asylantrag wurde abgelehnt«, erzählt der 46-Jährige. Es ist ihm unangenehm, über sich selbst zu sprechen. Lieber spricht er über Politik. Da wählt er seine Worte sicher, kein Zögern ist in seinen Sätzen. »In den ersten Jahren habe ich gedacht, ich bleibe nur in Deutschland, bis der Bürgerkrieg zu Ende ist«, erinnert er sich. »Als Palästinenser war mir das Interesse an Politik doch in die Wiege gelegt«, meint er. Niemand sah das Flüchtlingslager in Beirut als sein dauerhaftes Schicksal. Viele Familien schalteten schon vor dem Frühstück das Radio ein. »Wir wollten hören, ob es eine Lösung gibt, um dem Elend zu entkommen.« Eine Perspektive in Deutschland sah der Palästinenser ohne Aussicht auf Bildung lange nicht. Das änderte sich erst 1981. Walid Chahrour wurde es gestattet, eine Erzieherausbildung zu machen. Erzieher sieht er als politischen Beruf. Religion ist Walid weniger wichtig. Er wurde in der muslimischen Tradition erzogen, ist aber kein praktizierender Muslim. Auch in Berlin engagierte sich der Mann früh: im Berliner Flüchtlingsrat. Dort gehörte er anfangs zu den wenigen, die selbst als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen waren. Als Erzieher arbeitete Walid Chahrour dann mit jugendlichen Flüchtlingen. Er begleitete sie zur Anhörung im Asylverfahren, kümmerte sich um die Schule, einen Wohnheimplatz oder um eine Lehrstelle. Und er versuchte, Abschiebungen zu verhindern. Doch seine Arbeit hatte Grenzen: Waren die Jugendlichen noch nicht 16, schützte sie die UN-Kinderrechtskonvention vor einer Abschiebung. Danach sollten sie nach dem Willen der Politiker ausreisen. Berufsausbildung oder Studium waren für sie nicht vorgesehen. Das hatte Gründe. Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, also Jugendliche, die ohne Eltern nach Berlin geflohen waren, galten Mitte der 90er Jahre weithin als Kriminelle. In Politik und Medien war das Bild »rumänischer Klaukinder« präsent. Walids Kinder waren vor Bürgerkriegen oder Massakern geflohen, lernten gut in der Schule und standen danach trotzdem ohne Perspektive da. Wie wäre es, hat er sich da gefragt, wenn sie selbst eine Stimme in der deutschen Öffentlichkeit bekämen, das Bild vom Flüchtling zurechtrückten? Dazu versammelte der Palästinenser 1997 in einem Gebäude des Deutschen Roten Kreuzes in Berlin-Moabit eine Gruppe von minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen um sich. Viele haben damals Walids Vorhaben belächelt. Heute gehören in Berlin gut 20 junge Leute zu den »Jugendlichen ohne Grenzen«. Sie kommen aus Angola, der Türkei, Bosnien, Kosovo, Afghanistan, Vietnam, Sri Lanka und Bangladesch. Sie treffen sich alle 14 Tage zu politischen Aktionen, aber auch zu Feiern und gemeinsamen Ausflügen. »Die Gruppe ist meine Familie«, sagt Ibrahim, ein 25-jähriger Kurde, der wie einst Walid ohne Familie nach Deutschland floh und gerade sein erstes juristisches Staatsexamen gemacht hat. »Und Walid ist wie unser Vater.« Ibrahim: »Wir sind eine einmalige Familie, haben verschiedene Hautfarben und Religionen und kommen von drei Kontinenten.« Dass die Berliner Innenverwaltung in den letzten Jahren - anders als zuvor - Flüchtlingen immer häufiger Ausbildungs- und Studienerlaubnisse erteilte, mag auch mit der rot-roten Regierung zu tun haben, ist sicher aber auch der Überzeugungsarbeit der »Jugendlichen ohne Grenzen« zu danken, die auf Podien auftreten, Verbündete bei den Studenten suchen, bei Politikern vorsprechen. Dass das ein Stück auch Walids Verdienst ist, will der 46-Jährige nicht gelten lassen. »Das ist der Beharrlichkeit der jungen Leute zu verdanken«, sagt er. Längst hat seine »Familie« Nachahmer in anderen Bundesländern gefunden. In fast allen. Und inzwischen gehören auch Jugendliche dazu, die wie die 12-jährige Katjaya in Deutschland geboren wurden und hier mit den Eltern leben. Sie haben den 200 000 Flüchtlingen, die in Deutschland ohne Bleibeperspektive leben, Gesichter und Stimmen gegeben. Im Appell der »Jugendlichen ohne Grenzen« an die Innenminister heißt es: »Alle Kinder und Jugendlichen, die in Deutschland zur Schule oder in den Kindergarten gehen, die hier leben, hierher geflohen oder hier geboren sind, sollen weiterhin das Recht erhalten, mit ihren Eltern und Verwandten in der Bundesrepublik Deutschland zu leben.« Das ist wohl gewöhnungsbedürftig für Innenpolitiker dieses Landes. Tatsächlich hat mit dem Beschluss der Innenminister vom November nur eine sehr kleine Gruppe diese Rechte erhalten. Das Bleiberecht wurde an harte Auflagen geknüpft - außer der Dauer des Aufenthalts in Deutschland von mindestens sechs Jahren sind dies eine Arbeit, die den Lebensunterhalt sichert, Deutschkenntnisse, Straffreiheit. Für Walid und die »Jugendlichen ohne Grenzen« ist der Beschluss deshalb nur ein Teil-erfolg. Sie kämpfen weiter um ein humanitäres Bleiberecht für alle Betroffenen, aus dem früheren Jugoslawien, Kurden, Palästinenser, Vietnamesen oder afrikanische Flüchtlinge. Sie leben seit Jahren in Deutschland, und die meisten von ihnen erhalten auch weiterhin kein Aufenthaltsrecht. Walids richtige Familie akzeptiert sein Engagement. Zu kurz kommt wegen des politischen Engagements sein Studium der Erziehungswissenschaften und Soziologie an der Technischen Universität. Als Mittvierziger erfüllt er sich nun immerhin den alten Traum aus seinen Kindheitstagen in Beirut: zu studieren. Auch wenn er das Studium neben Job, Familie und Politik bewältigen muss. Die 12-jährige Katjaya aus Kosovo war es, die im September den Innenministern in ihrer Heimatstadt Berlin die Resolution übergeben hat. Sie brauche das Bleiberecht, weil sie endlich ihre Großeltern kennenlernen wolle, hat sie Schäubles Pressesprecher gesagt. Würde die in Berlin geborene Gymnasiastin ohne Bleiberecht die Großeltern in Kosovo besuchen, dürfte sie nicht wieder nach Deutschland einreisen. Wieso nicht? Hier geht sie zur Schule, hier ist sie zu Hause. Wieder bei den Demonstranten angekommen, hat Chahrour das Mädchen auf die Bühne gehoben. Mit kindlicher, aber sicherer Stimme hat sie die spärlichen Reaktionen von Schäubles Pressesprecher wiedergegeben. Walid jedenfalls war es in dem Moment anzusehen. Er war stolz auf sie.

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