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Volle Kontrolle über Gaza
Israels Kriegskabinett will den Krieg in alle Winkel tragen
Die Erleichterung, die Hoffnung war groß, als am 18. Mai 1994 die letzten israelischen Soldaten Gaza-Stadt verließen. Gerade einmal zwei Wochen zuvor war das Gaza-Jericho-Abkommen unterzeichnet worden: Der Gazastreifen, durch die strategisch günstig gelegenen israelischen Siedlungen in einen Flickenteppich verwandelt, sollte künftig durch die palästinensische Autonomiebehörde regiert werden. Palästinenserführer Jasser Arafat kehrte nach Gaza zurück, küsste den Boden. Israels Rechte tobte, allen voran: Benjamin Netanjahu, damals Chef des Likud und Oppositionsführer.
Nun, 31 Jahre später, ist er Regierungschef und dreht die Zeit zurück: In der Nacht zum Freitag beschloss das Sicherheitskabinett nach stundenlanger Diskussion, den Krieg im Gazastreifen auszuweiten. Die Bevölkerung der Stadt, ungefähr eine Million Menschen, solle in den Süden des stark übervölkerten Landstrichs »evakuiert« werden, so der Beschluss. Danach wolle man der Hamas ein Ultimatum stellen: Legt sie die Waffen nicht nieder, solle die Stadt besetzt werden. Der US-Sender NBC berichtet unter Berufung auf Satellitenbilder von einem größeren Truppenaufbau an der Grenze.
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In den israelischen Medien wird spekuliert: Ist das eine Taktik, um die Hamas zu einer Rückkehr an den Verhandlungstisch und zu Zugeständnissen zu zwingen? Oder meint Netanjahus Koalition aus dem rechtskonservativen Likud und drei extrem rechten Parteien mit Unterstützung der ultraorthodoxen Parlamentsfraktionen es wirklich ernst?
Denn die Ziele, die von der Regierung nach außen kommuniziert werden, wirken ebenso vage wie gewagt. Die Soldaten sollen in einer menschenleeren Stadt die verbliebenen Kämpfer der Hamas ausfindig machen und natürlich auch die letzten verbliebenen Geiseln. Nach Angabe des israelischen Militärs befinden sich noch 50 Menschen in den Händen der Hamas und des Islamischen Dschihads; davon sollen 27 tot sein. In der vergangenen Woche veröffentlichte die Hamas mehrere Videos, in denen stark ausgemergelte Geiseln zu sehen sind. Unmittelbar danach gingen in Israel erneut Tausende auf die Straßen, forderten ein Ende des Krieges, einen Deal mit der Hamas.
Aber Netanjahu und sein innerer Kreis wählen nun den entgegengesetzten Weg, gegen den erklärten Willen der Militärführung. Übereinstimmenden Berichten zufolge warnte Generalstabschef Eyal Zamir, eine Besetzung von Gaza-Stadt bringe die Geiseln in zusätzliche Gefahr, zudem würde die Verteidigungsbereitschaft leiden, weil dadurch enorm viele Truppen gebunden würden, und das wahrscheinlich über längere Zeit. Die »New York Times« berichtet unter Berufung auf Militärexperten, dass es allein mehrere Monate dauern würde, bis die Stadt eingenommen sei. Bis zu fünf Jahre könne es dauern, bis in Gaza eine ähnliche Kontrolle wie im Westjordanland etabliert sein.
Denn auch das ist Teil des Plans: Netanjahu und seine Regierung wollen dauerhaft die komplette militärische Kontrolle übernehmen. Die zivile Verwaltung soll von palästinensischen Kräften ohne Beteiligung der Hamas oder der Autonomiebehörde übernommen werden. Gaza solle von einer Regierung kontrolliert werden, die Israel nicht zerstören will, sagte Netanjahu in einer Videobotschaft.
Netanjahu und seine Regierung wollen dauerhaft die komplette militärische Kontrolle im Gazastreifen übernehmen.
Das Problem dabei: Niemand weiß, wer dafür in Frage kommt. Die Führungen der einflussreichen Großfamilien haben bereits abgelehnt. Sie haben auch überhaupt keine Regierungserfahrung. Und dass eine Führung von Israels Gnaden von der Bevölkerung freiwillig akzeptiert werden würde, ist nahezu ausgeschlossen.
Viel Zeit, den Plan umzusetzen, bleibt Netanjahu ohnehin nicht: Spätestens im Herbst 2026 wird in Israel gewählt und nichts deutet darauf hin, dass es eine Neuauflage dieser Koalition geben könnte. Sollte es überhaupt zu einer weiteren Netanjahu-geführten Regierung kommen, müsste sich der Premier auf sehr viel gemäßigtere Partner einlassen.
Schon jetzt droht Israel allerdings ein kaum noch reparabler Schaden: Ägyptens Regierung, die bisher eine enge Kooperation in Sicherheitsfragen pflegte, ist ebenso wie Jordaniens Führung unter dem massiven öffentlichen Druck auf Distanz gegangen. Und am Freitag gab die Bundesregierung bekannt, dass man sämtliche Lieferungen von Rüstungsgütern stoppe, die im Gazastreifen zum Einsatz kommen könnten. In vielen anderen europäischen Ländern ist man ohnehin schon den nächsten Schritt gegangen und hat Palästina entweder als Staat anerkannt oder steht kurz davor.
Und selbst im Verhältnis mit US-Präsident Donald Trump offenbaren sich mittlerweile Risse. Zwar scheint dessen Regierung eine Besetzung des Gazastreifens zu unterstützen. Ende Juli hatte Trump Netanjahu in Bezug auf die von letzterem bestrittene Hungersnot öffentlich widersprochen: Er sei »nicht besonders überzeugt« von Netanjahus Zusicherungen; es gebe echten Hunger in Gaza: »Das kann man nicht faken«. In einem Telefonat einen Tag später habe Trump Netanjahu angebrüllt, berichtete die Times of Israel am Freitag.
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