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Vor 50 Jahren in Erfurt: Algerier durch die Stadt gehetzt
Ausländerfeindlichkeit schlägt in Gewalt um: Das gab es auch in der DDR. Zu mehrtägigen Ausschreitungen gegen Vertragsarbeiter kam es 1975 in Erfurt
Im August 1975 wurde die heutige thüringische Landeshauptstadt Erfurt von rassistischen Ausschreitungen erschüttert: 300 junge Erfurter jagten 25 algerische Vertragsarbeiter durch die Innenstadt und prügelten einige von ihnen krankenhausreif. 50 Jahre danach sollen mehrere Gedenkveranstaltungen an die Ereignisse erinnern.
Die Ausschreitungen in Erfurt dauerten drei Tage an – vom 10. bis 13. August 1975. Nach der ersten Hetzjagd kam es zu weiteren Angriffen auf die Algerier, die als Arbeiter für mehrere Erfurter Betriebe angeheuert worden waren. Ausgelöst wurden sie durch frei erfundene Behauptungen über angebliche Vergewaltigungen und rassistische Gerüchte, die in Erfurt kursierten.
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Rassismus und Rechtsextremismus überdauerten
Infolge der Übergriffe ermittelten die Sicherheitsbehörden der DDR. Nach Angaben des Historikers Harry Waibel wurden etwa zwei Dutzend Ermittlungsverfahren gegen Erfurter eingeleitet, die mutmaßlich an den Angriffen beteiligt waren. Fünf von ihnen wurden als »Rädelsführer und Rowdys« gerichtlich zur Verantwortung gezogen, wie es in einem von Waibel verfassten Heft zu den Ausschreitungen heißt, das die Landeszentrale für politische Bildung 2024 veröffentlichte. Während des Verfahrens habe sich herausgestellt, dass sie »bereits zuvor mit Gesetzen in Konflikt gekommen waren«.
Aus Sicht der Historikerin Annegret Schüle, die in Erfurt den Erinnerungsort Topf & Söhne leitet, zeigen die Ausschreitungen, dass auch in der DDR, die sich dem Antifaschismus und der Völkerfreundschaft verschrieben hatte, Rassismus und extrem rechte Haltungen das Ende des Hitlerregimes überdauert hatten. Dass es die Ausschreitungen in dieser Größe in Erfurt gab, sei vermutlich ein Zufall gewesen. »Das hätte auch in anderen Orten passieren können.«
Unter der Decke gehalten
Den Grund dafür, dass die sich in aller Öffentlichkeit abspielenden Ausschreitungen von Erfurt so lange unter dem Radar blieben, sieht Schüle darin, dass sie von den offiziellen Stellen damals unter der Decke gehalten wurden. Die DDR-Staatssicherheit habe die Übergriffe zwar sehr genau protokolliert, verhinderte aber, dass darüber gesprochen wurde. »Denn dass es Rassismus auch in der DDR gab, war ja ein Tabu, das bis heute nachwirkt«, so Schüle. Es habe maßgeblich dazu beigetragen, dass es in Ostdeutschland nie zu einer umfassenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Rassismus gekommen sei. Heute begünstige dies den hohen Zuspruch für rechte und rassistische Einstellungen in Ostdeutschland.
In der DDR waren zwischen 1974 und 1984 mehr als 8000 algerische Arbeitsmigranten tätig, wie die Universität Erfurt erforscht hat. Geregelt wurde das durch ein Abkommen zwischen der DDR und Algerien. Ähnliche staatliche Abkommen, die den Einsatz von ausländischen Vertragsarbeitern regelten, gab es unter anderem auch mit Vietnam und Angola.
Vertragsarbeiter wurden von Bevölkerung abgeschottet
Eine Integration der Vertragsarbeiter, die unter anderem den Arbeitskräftemangel in der DDR beheben helfen sollten, habe es nicht gegeben, sagt Annegret Schüle. Zwar sei es zu vielen Kontakten am Arbeitsplatz zwischen DDR-Bürgern und den Vertragsarbeitern gekommen. Aber die Arbeitsmigranten seien gezielt separat in Wohnheimen untergebracht worden. Es sei klar gewesen, dass sie nicht Teil der DDR-Gesellschaft werden sollten. »Überhaupt wurde ihnen mit einem geradezu paternalistischen Gestus gegenübergetreten.«
Die Forschung zu den Übergriffen von Erfurt hat erst in den vergangenen Jahren eingesetzt. Im vergangenen Jahr erschien dazu die erwähnte Broschüre der Landeszentrale für politische Bildung. An der Universität Erfurt gibt es ein eigenes Forschungsprojekt dazu.
Die Veranstaltungen zur Erinnerung an die Ausschreitungen – ein Gedenken auf dem Domplatz am Sonntag, eine Podiumsdiskussion und eine Gesprächsrunde am Montag im Erfurter Rathaus – richten die Universität Erfurt, die Landeszentrale für politische Bildung, der Erinnerungsort Topf & Söhne sowie der Verein »Migranetz Thüringen« gemeinsam aus. Zu der Gesprächsrunde werden auch drei ehemalige Vertragsarbeiter erwartet. dpa/nd
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