Endlich haben wir das Stück verstanden

Bei den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern überzeugen vor allem die Nachwuchskünstler

  • Gerhard Müller
  • Lesedauer: 5 Min.

Gotische Kirchen überragten einst die Stadt Wismar und wiesen den Gläubigen den Weg zum Himmel, den Seeleuten zum Hafen. Doch von St. Marien existiert heute nur noch der Turm, das Kirchenschiff ist verloren, St. Georgen ein leeres Gemäuer. Das Dach, durch das einst Bomben fielen, ist erneuert, aber der Glaubensschmuck ging in Flammen auf, eine steinerne Grabplatte mit Fabelwesen zeugt von längst vergangener Pracht. Geblieben sind die Glocken. Wir können die Vergangenheit nicht mehr sehen, aber wir können sie hören, die Glocken klingen immer noch.

Die australische Komponistin Catherine Milliken, heute eine Berlinerin, bannte ihre paläontologischen Töne in ein elektronisches Musikstück für die Eröffnung der diesjährigen »Festspiele Mecklenburg-Vorpommern«. Mit Staunen erlebten die Besucher in der Halbruine von St. Georgen diese akustische Rekonstruktion der alten Seefahrerstadt. Ein See-Stück war auch das folgende Violinkonzert von Benjamin Britten, das Vilde Frang vortrug, eine norwegische Senta des Violinspiels, die mit der Süße ihres Tons die Wismarer bezauberte. Sie schien den Gemälden Botticellis entstiegen zu sein und spielte auch so engelhaft schön.

Als »Artist in Residence« trat sie in diesem Jahr bereits in Dutzenden von Konzerten in Erscheinung. Benjamin Britten komponierte sein Violinkonzert im Jahr 1939 auf der Flucht vor Hitlers Krieg über den Ozean nach Amerika, es ist ein Seestück wie Wagners »Fliegender Holländer«, nur vernehmen wir darin nicht die Gespenster des Meeres, sondern die stampfenden Schiffsmotoren. Der dritte Satz, eine Passacaglia, ist eine Kassandra-Klage vor dem Kriege. Das New Yorker Publikum damals, taub wie einst die Trojaner, rührte bei der Uraufführung 1939 kaum die Hände, niemand stellte sich den Krieg vor.

Noch einmal Wismar: Josef Haydns Oratorium »Die Schöpfung«. Damit startete 1816 das erste Wismarer Chorfestival. Man wollte kein Remake, Haydn wurde modernisiert. Der Rostocker Kompositionsprofessor Peter Manfred Wolf bewog seine Studenten, avantgardistische Intermezzi einzufügen. Haydn stellten sie ihren neuen dunklen Haydn-Lärm entgegen, Einschläge, Explosionen, Trompetentriller und Posaunenglissandi, Gewitterwolken über Arkadien. Das Publikum feierte die fünf Studenten ebenso wie die Solisten, das Neubrandenburger Orchester, die vereinigten Chöre aus Greifswald, Rostock und Schwerin und dem Dirigenten Stanley Dodds.

Das Schweriner Theater will das nördliche Verona der Open Air Opera werden. Zehntausende sahen das Theater vor dem Schloss. Man gab »Aida« auf Italienisch: Yannick-Muriel Noah aus Madagaskar (Aida), Rossana Rinaldi aus Florenz (Amneris), Steffen Schantz aus Schwerin (Radames), Krum Galabov aus Bulgarien (Amonasro).

Am Dirigentenpult Gregor Rot aus Wien. Die Musik kam einem bekannt vor, die Inszenierung allerdings stammte eher aus der Tagesschau als aus Verdis Partitur. Der Holländer Georg Rootering ließ zum Triumphmarsch einem greisenhaften Elefanten aufmarschieren, der kopfschüttelnd die Projektionen syrischer Kampfpanzer auf den Leinwänden betrachtete. Der Pharao erinnerte an König Hussein von Jordanien, die alten Ägypter waren mit Revolvern ausgerüstet. Die besiegten Nubier trugen die orangene Häftlingskleidung von Guantanamo. Am Ende erwürgte Radames Aida auf einem blauen Sofa und trank den Giftbecher, den er zufällig dabei hatte. Endlich haben wir das Stück verstanden.

Ein junges Streichquartett spielte in einer verflossenen Scheune am Ufer der Elbe die beiden deutschen Hymnen - Hanns Eisler und Joseph Haydn. Die erste mit dem Refrain lautete »Deutschland, einig Vaterland«, die zweite: »Deutschland über alles«. An jenem Tage verlor Deutschland gegen Frankreich bei der Fußball-Europameisterschaft. Die Scheune, ein historisches Museum, steht inmitten des 500-Meter-Streifens der einstigen deutsch-deutschen Grenze, der Ort heißt Konau und liegt zwischen Dömitz und Darchau. Eingeladen ist man zu einer »Landpartie«, die eine Wasserpartie wurde, Floßfahrt im Regen auf der Elbe, die hier einst das Vaterland und Welten trennte. Am Abend hellt es auf, das »Goldmund Quartett« (es heißt tatsächlich so) und der Pianist Frank Duprée spielen Musik von Strawinsky, Beethoven, Schumann.

Mecklenburg ist auch ein Startplatz für die Jungen. In der Synagoge von Hagenow spielten fünf hochbegabte Schüler der Musikschule Tbilisi. Die 14-jährige Anna Tchania, ein Schulkind, interpretierte brillant Paganinis »La Campanella«, der 15-jährige Davit Khrikuli Franz Liszts Etüde »Wilde Jagd«, der 19-jährige Sandro Sidamonidze mit seinem Mitschüler Sergo Markosjan die Cello-Sonate von Schostakowitsch, und schließlich schien der junge Schostakowitsch selbst zu kommen, ein schwarzhaariger, verlegen wirkender Junge - Sandro Nebieridze - der ihm aufs Haar glich und mit einer genialischen eigenen Sonate aufwartete. Werden wir diesen Namen wieder begegnen? Sie sollten durch Europa reisen - Botschafter eines neuen Georgien. Stattdessen ist ihre Musikschule verfallen, das Parkett wirft sich auf, der abgeschabte Flügel wird mit einem Balken stabilisiert. Eine freigiebige Hamburger Stiftung (die Martha-Pulvermacher-Stiftung) sorgt für das Notwendige, finanziert die Reise.

Der britische Tenor Ian Bostridge hat ein faszinierendes Buch über Franz Schuberts »Winterreise« geschrieben. Nun begegnete ich ihm selbst, er sang die »Winterreise«, es war außerordentlich. So hatte man sie noch nie gehört hatte -, hart, tragisch, ohne romantischen Schimmer, das verzweifelte Reisetagebuch eines Ausgestoßenen und Vertriebenen. In dem entlegenen dörflichen Schloss Schwiessel klangen diese Winterlieder trotz des heißen Sommers beklemmend.

Ulrichshusen aber, unweit von Waren/Müritz, der romantischste aller Festspielorte, bot einen dreitägigen »Pavillon der Moderne« und krönte das Festival im Festival mit der Turangalîla-Sinfonie von Olivier Messiaen. Die Sinfonie von 1947 ist eine enthusiastische Liebes- und Friedensfeier, das monumentale Gegenstück zu dem »Quartett auf der Ende der Zeiten« von 1941. Die Hamburger Philharmonie unter Kent Nagano entfesselte den kriegsgeschreizerstörenden Elan dieser Musik mit unglaublicher Klanggewalt.

Bis 17. September

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