Gute Nacht in der Pappelallee

Beim «Schlafportal Hotel Berlin» im Ballhaus Ost lässt sich dort übernachten, wo andere Kunst machen

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 4 Min.

Eingecheckt ist schnell vor der Tür. In der Lobby lauern Fragen. «Welches Zimmer? Bist du ein Sozialschläfer?» Keine Ahnung, muss wohl so sein. Mein «charmantes Zimmer 101» ist ein Bett auf halber Treppe nahe der Bar (immerhin). Auf der weichen Decke lümmelt sich einsam mit missgelaunter Miene eine Schaumstofffigur des Helmi-Puppentheaters. Im «Hotel Berlin - dem »Schlafportal im Ballhaus Ost« ist jede Ecke vermarktet. So ist das jetzt in Berlin. Alles ist recht. Hauptsache ein Dach überm Kopf. Demzufolge etwas piefig ist die ganze Sache dann auch. Ausstatter Hendrik Scheel und seine Helfer haben Unglaubliches vollbracht. Unter den 75 Schlafplätzen gibt es sogar ein romantisches »Freiluftzimmer«. Nicht die schlechteste Wahl, solange das Wetter mitspielt. Die Schlafsaalvariante gibt’s auch.

Unübersehbar ist die Doppeldeutigkeit der mehrstündigen Inszenierung während des Hotelaufenthalts angesichts der aktuellen Wohnsituation in Berlin, in Prenzlauer Berg. In drei Kategorien (von 13 bis 15, ermäßigt 8 bis 10 Euro) vom Keller bis unter das Dach hat das Team Recherchepraxis mit Regisseur Stefan Nolte, Dramaturgin Ruth Feindel und Autor Paul Brodowsky zusammen mit Tina Pfurr und Daniel Schrader vom Ballhaus Ost bei dem vom Hauptstadtkulturfonds und der in Basel ansässigen Stiftung Edith Maryon Theaterschlaf vermarktet. Seit dem Frühjahr arbeiteten sie daran. Ein kraftaufwendiges, gelungenes Projekt.

Viel Erlebnis und Übernachtung für wenig Geld. Das Programm ist fast zu prall bis zum gemeinsamen Essen eine Stunde vor Mitternacht. Es wird von Hoteldirektorin Tina und den Schauspielern Christine Rollar und Alexander Ali Schröder zu Führungen gerufen, ein mutiger alter Zirkusartist aus dem Kiez erzählt in seiner Wohnecke, wie er schon sieben Jahre der Vertreibung aus seiner Wohnung trotzt. Zuschauer sammeln sich zu Workshops, man kann zwei Künstlerinnen im Ballhaus-Asyl besuchen. Über die Leinwand erlebbar ist eine »Energiewelle« aus der Probenwohnung Kaulsdorf-Nord. Daniel Schrader arbeitet dort mit Schauspielern an einer Inszenierung von Thomas Manns »Zauberberg«.

Architektin Anna Baltschun erzählt, wie sie sich eine Sanierung des Ballhauses Ost vorstellt, und bietet den »Hotelgästen« per Crowdfunding eine Teilhabe an. Dieser sogenannten Schwarmfinanzierung bedient sich die Kunst zunehmend. Aus Prenzlauer Berg will beispielsweise »Meine Bühne - Dein Theater« auf diese Art eine Friedhofskapelle in Friedrichshain als Jugendtheater ausbauen.

Die wie ein alter Zahn in der Pappelallee wirkende und unablässig im Wert steigende, unter Denkmalschutz stehende Ballhaus-Ost-Immobilie mit Einschusslöchern aus dem Zweiten Weltkrieg wurde von der 1845 begründeten freikirchlichen Bewegung mit dem Leitbild »Die Welt regiert sich selbst nach eigenen Gesetzen« erbaut. Der Kirche Rituale entreißend, feierte man hier erste Jugendweihen, hielt wissenschaftliche Vorträge.

Auf dem zum Haus gehörenden Friedhof »verwandelt« sich Schauspieler Schröder in den Unruhegeist am Ort Beerdigter, berichtet von der Frauenrechtlerin Agnes Wabnitz, die sich 1894 auf dem Friedhof der Märzgefallenen umbrachte und hier unter beeindruckender Anteilnahme der Bevölkerung zu Grabe getragen wurde. Waren Demonstrationen auch verboten, Trauerzüge nicht. 40 000 Berliner sollen dabei gewesen sein, brachten mehr als 700 Kränze. Ein Vergleich zum heutigen eiligen Kerzenaufstellen als Trauerzeichen drängt sich auf.

Schröder erzählt spannend aus der Hausgeschichte, leuchtet hierhin, dorthin mit der Taschenlampe. Ein Fuchs wohne auf dem Friedhof, fügt er ein. Kaum, dass er es aussprach, trottet hinter ihm Reineke müde vorbei. Die Welt regiert sich selbst nach eigenen Gesetzen.

Im »Hotel« ist ständig Bewegung. Gäste und Personal begegnen sich lächelnd. Hoteldirektorin Tina eilt herum. Freundlich bittet die brasilianische Künstlerin Fernanda in ihr Zimmer 404. Alles dort ist weiß gestrichen. Noch nirgends in Berlin konnte sie persönlich Farbe hinterlassen. Von der Odyssee ihrer Suche nach von ihr bezahlbarem Wohnraum durch nahezu alle Bezirke erzählt sie anhand von zehn Schlüsseln.

Es ist spät geworden. Einige Gäste haben sich zurückgezogen, andere sitzen noch zusammen, können einen Film sehen oder Billard spielen. Gute Laune. Gute Nacht.

Weitere Vorstellungen: 13. bis 15., 16. bis 18. September, Check-in jeweils 19.30 Uhr bis 20.15 Uhr, Check-out jeweils 9 Uhr am folgenden Tag, Ballhaus Ost, Pappelallee 15, Prenzlauer Berg.

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