Ein schöner, harter Brocken

Über Stock und Stein den Heinrich-Heine-Weg hinauf auf den »Berg der Einheit«. Von Heidi Diehl

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 5 Min.

Auf den letzten vier Kilometern extrem steil bergauf versuchte ich mir unentwegt vorzustellen, wie sich Heinrich Heine, der diesen Weg in umgekehrte Richtung gelaufen ist, fühlte, als er am Morgen nach seiner Brockenwanderung aufwachte. Mag der 11,5 Kilometer lange Wanderweg zum Gipfel, der heute den Namen des Dichters trägt, ansonsten für ambitionierte Wanderer relativ locker zu nehmen sein, das letzte Stück hinauf zum Gipfel auf 1142 Meter führt stetig bergan mit einer Steigung von gut 15 Prozent. Das geht tierisch in die Beine! Beim Abstieg wohl noch mehr als beim Aufstieg. Über seine morgendlichen Wadenschmerzen hat uns der Dichter zwar nichts hinterlassen, wohl aber seine Erinnerungen an »Die Harzreise«, die er 1824 als Student von Göttingen über den Brocken bis nach Ilsenburg machte.

Wir beginnen unsere Tour an Heines Endpunkt. In vier Stunden, so hoffen wir, haben wir den Gipfel erreicht, anders als der ältere Ilsenburger, der voller Überzeugung meint, »mit Muss knapp zwei Stunden« zu brauchen. Vielleicht stimmt das, aber dann kann er unmöglich einen Blick für die Natur haben, die insbesondere auf den ersten Kilometern, immer entlang der Ilse, bilderbuchhaft schön ist. Das sah auch Heine so: »Es ist unbeschreibbar, mit welcher Fröhlichkeit, Naivität und Anmut die Ilse sich hinunterstürzt über die abenteuerlich gebildeten Felsstücke, so dass das Wasser hier wild emporzischt und unten wieder über die kleinen Steine hintrippelt, wie ein munteres Mädchen. Ja, die Ilse ist eine Prinzessin, die lachend und blühend den Berg hinabläuft.«

Es läuft sich gut auf dem schattigen Waldweg entlang des beruhigend plätschernden Flusses, auf dem bis Anfang des 20. Jahrhunderts noch Holz hinab ins Tal geflößt wurde. Noch erscheint die Vorstellung, dass der Heine-Wanderweg der schwerste hinauf zum Brocken sein soll, regelrecht absurd. Nach gemütlichen anderthalb Stunden haben wir die Ilsefälle erreicht, bei denen auf 1200 Meter das Wasser kaskadenförmig über die Felsen sprudelt. Mittendrin liegt ein riesiger, trockener Stein - für uns der schönste vorstellbare Rastplatz. Für den Mann, der mit einem gemurmelten »Mist, schon besetzt!« vorbeiläuft, offensichtlich auch. Später begegnen wir ihm ein paar Stromschnellen weiter wieder, versöhnt auf einem Stein an einer Kaskade sitzend, die er in seinem Zeichenbuch verewigt. »Hier ist es überall so schön, das muss ich einfach festhalten«, sagt er.

Oberhalb der Ilsefälle lichtet sich der dichte Märchenwald, bald ist die Schutzhütte »Stempelsbuche« erreicht. Hier kann man sich zwar auch seinen Stempel für die Harzer Wandernadel holen, der Name aber kommt von der einst prächtigen Stempelbuche, von deren Existenz leider nur noch ein riesiger Stumpf zeugt.

Die Hälfte des Weges ist geschafft, bis hierhin fast ein Spaziergang. Ein erstes Vorgefühl auf zwickende Waden bieten die nächsten zwei Kilometer, doch noch immer geht’s uns wie Heine: »Fröhlich stieg ich den Berg hinauf. Bald empfing mich eine Waldung himmelhoher Tannen, für die ich in jeder Hinsicht Respekt habe. Diesen Bäumen ist nämlich das Wachsen nicht so ganz leicht gemacht worden. Die meisten Bäume mussten mit ihren Wurzeln die großen Granitblöcke umranken und mühsam den Boden suchen, woraus sie Nahrung schöpfen können.«

Diese »akrobatischen« Tannen wachsen hier noch immer, doch hin und wieder schieben sich auch Waldstücke in den Blick, die alles andere als eine Augenweide sind: kahle Gerippe von Bäumen, die vom Borkenkäfer und der Zeit zerlegt werden. Wir sind mitten im 1990 gegründeten Nationalpark Harz. Bis auf die Brockenkuppe bleibt sich die Natur im Wesentlichen ohne Eingriffe des Menschen selbst überlassen.

Bald gelangen wir auf den Hirtenstieg, der so heißt, weil einst die Hirten ihre Schafe auf diesem Weg zu den Weideplätzen unterhalb des Brockengipfels trieben. Jetzt beginnt der eigentliche Aufstieg zum Brocken. Von nun an geht es vier Kilometer stetig bergan, und wir beherzigen, schon, um mal Zeit zum Durchatmen herauszuschinden, gern den Rat aus dem Wanderführer: »Drehen Sie sich ab und an mal um und genießen Sie die Aussicht.« Machen wir und können wir an diesem tropischen Spätsommertag auch. Die Sicht ist zwar etwas diesig, aber man kann relativ weit über den Harz schauen. Anders als Heine es erlebte, der einen der rund 300 Tage im Jahr erwischt hatte, an denen es hier oben ziemlich nebelig ist. Als er den Hirtenstieg entlangging, war der noch ein steiniger Waldweg, heute ist er eine Betonpiste, ein Überbleibsel aus dem Kalten Krieg. 50 Jahre lang schlängelte sich der sogenannte Kolonnenweg wie ein überlanger Wurm durch eine kahle Landschaft - sie wurde aus militärstrategischen Gründen komplett abgeholzt. 25 Jahre später zeigt sich, wozu die Natur fähig ist, wenn man sie nur lässt. Üppig grünt es wieder rechts und links des Weges, wenngleich die Bäume kurz vor der Baumgrenze eher wie Bonsais wirken, wie schon Heine notierte: »Je höher man den Berg hinaufsteigt, desto kürzer, zwergenhafter werden die Tannen, sie scheinen immer mehr und mehr zusammenzuschrumpfen, bis nur Heidelbeer- und Rotbeersträucher und Bergkräuter übrig bleiben ... Es ist ein äußerst erschöpfender Weg, und ich war froh, als ich endlich das lang ersehnte Brockenhaus zu Gesicht bekam.«

Er spricht uns aus der Seele! Schnaufend quälen wir uns die Piste hinauf, bis hinter einer Kurve endlich der Gipfel vor uns liegt. Die Lebensgeister erwachen wieder. Noch 1500 Meter, dann ist das Ziel erreicht. Was für ein unglaubliches Gefühl!

Dagmar Gutbier, die im Brockenmuseum arbeitet, kann das sehr gut verstehen. Obwohl sie mit dem Auto hochfahren darf, geht sie fünf bis sechs Mal im Jahr von ihrem Wohnort Schierke zu Fuß zur Arbeit. Allerdings sei das nichts gegen andere, die zum »Klub der 100« gehören, jene also, die seit 1989 mindestens 100 Mal den Gipfel zu Fuß erklommen haben. »Dieser Berg ist eben was Besonderes, er ist für Leute aus Ost und West der Berg der Einheit«, sagt sie.

Hinab wollten wir eigentlich die bequeme Brockenbahn nehmen. Doch dann entscheiden wir uns für den steinig-urigen Abstieg über den Teufelsstieg und durchs Hexental hinunter nach Schierke. Am Ende des Tages haben wir rund 25 Kilometer in den Beinen und am nächsten Morgen einen kräftigen Muskelkater in den Waden. Den haben wir uns aber auch wirklich redlich verdient!

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