Literatur oder Hype?

Am Sonnabend erscheint das Buch zum Theaterstück »Harry Potter und das verwunschene Kind« auf Deutsch

  • Lilian-Astrid Geese
  • Lesedauer: 4 Min.

Irgendwann, 1997 war es wohl, erzählte mir ein Freund, er habe bei einer Lesung mit einer englischen Autorin gedolmetscht. Sie sei ein Newcomer in der Literaturszene, offenbar Hausfrau und Mutter, und habe ein total geniales Kinderbuch geschrieben, das auch Erwachsenen Spaß mache. Fantasy, aber anders als alles, was bis dahin in diesem Genre erschienen sei. Die große Unbekannte von damals war J. K. Rowling. Das mir nachdrücklich empfohlene Buch hieß »Harry Potter und der Stein der Weisen«, und ich verschlang es, wie bald auch meine Tochter und Millionen anderer begeisterter Leserinnen und Leser weltweit. Ebenso die folgenden sechs Bände. Als treue Fans sahen wir auch alle Filme, wenngleich ich diese zum Teil zu reißerisch und für eher junge Zielgruppen zum Teil auch recht brutal fand.

Sieben Romane, sieben Filme, zehn Jahre. Seit 2011, als der letzte Film ins Kino kam, gab es eine lange Pause - bis zum 31. Juli 2016, dem Tag, an dem »Harry Potter und das verwunschene Kind« im Palace Theater im Londoner West End Premiere feierte. Zeitgleich erschien das englische Original des achten Harry-Potter-Buches »Harry Potter and the Cursed Child« als Bühnenskript (Probenausgabe) und verkaufte sich bereits in der ersten Woche in Großbritannien und den USA in vier Millionen Exemplaren. Eine unglaubliche Auflage, umso mehr, als es sich eben nicht um einen Roman, sondern um einen Dialogtext inklusive Regieanweisungen handelt.

Soll man das lesen? J. K. Rowling ist Mitautorin. Zusammen mit ihr schrieben John Tiffany und Jack Thorne das Stück. Ist es Literatur oder Hype? Kann Rowling nicht aufhören, über Harry Potter zu schreiben? Muss sie es gar, weil ihre unter dem Pseudonym Robert Galbraith verfassten Krimis weniger erfolgreich sind, als sie es sich wünscht?

Wer dem Charme der Harry-Potter-Bände 1 bis 7 erlag, wird sich auch bereitwillig in die Welt der nächsten Generation der Potters, Weasleys und Grangers locken lassen. Das Theaterskript liest sich in der Tat ebenso spannend wie ein Roman, und das ist ein echtes Kompliment. Denn die Lektüre von Dramen empfinde ich eher als anstrengend, wenngleich Schiller, Lessing, Shakespeare und andere Bühnenautoren ausgesprochen spannende Geschichten schrieben. Überdies, und das macht den neuen Harry Potter gewiss (auch oder wieder) für erwachsene Leserinnen und Leser attraktiv, spielen nicht nur mutige Kinder (Albus Severus Potter, Rose Weasley-Granger, Scorpius Malfoy), sondern auch ihre Eltern Harry und Ginny Potter, Hermine und Ron Weasley und Harrys Jugendfeind Draco Malfoy, alle in ihren frühen Vierzigern, eine Rolle. Hermine, verheiratet mit Ron, ist mittlerweile Ministerin für Zauberei, Harry, der Gatte von Rons Schwester Ginny, arbeitet als Beamter unter Hermines Leitung. Ihre Kinder sind so ganz anders gestrickt als die heroischen Eltern. Sie leiden sichtbar unter deren Renommee - Albus unter dem unbändig guten Ruf des ewigen Harry Potter und Scorpius unter dem schlechten Image seines Vaters Draco Malfoy. Natürlich aber gehen auch sie in Hogwarts zur Schule. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem sie beschließen, den Hogwarts Express heimlich zu verlassen und stattdessen eine Reise in die Vergangenheit anzutreten. Albus will ein Unrecht wiedergutmachen, das sein Vater einst beging. Doch die intendierte Wohltat erweist sich als Auslöser katastrophaler Ereignisse, die hier natürlich nicht verraten werden sollen. Auch das Londoner Premierenpublikum wurde zum Stillschweigen über die Details der Aufführung verpflichtet.

So viel jedoch sei festgehalten: Die Reisen in die Vergangenheit bringen Begegnungen mit vielen alten Bekannten in und aus Hogwarts, Erinnerungen werden aufgefrischt. Vielleicht ist »Harry Potter und das verwunschene Kind« nur eine Überleitung zu neuen Erzählungen aus der Welt der Fantasie. Anknüpfungspunkte für mindestens eine Fortsetzung gäbe es. Und auch ein junges Lesepublikum, das mit seinen Idolen groß werden würde. Ob eine Geschichte auserzählt ist oder nicht, entscheidet in der Welt der Muggles letztlich ja der Markt.

J.K. Rowling, John Tiffany, Jack Thorne: Harry Potter und das verwunschene Kind. Teil 1 und 2. Special Rehearsal Edition Script. Aus dem Englischen von Klaus Fritz und Anja Hansen-Schmidt. Carlsen Verlag. 336 S., geb., 19,99 €.

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