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Gesetz gezielt demontiert

Verordnungsreport kritisiert politisches Versagen bei der Preisdämpfung für Medikamente

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.

2015 gab die Gesetzliche Krankenversicherung 36,9 Milliarden Euro für Arzneimittel aus - ein Rekordwert und eine Steigerung gegenüber 2013 um 4,8 Milliarden Euro. Der Zuwachs kommt vor allem aus der Gruppe der noch patentgeschützten Medikamente, wie der Arzneiverordnungsreport 2016 zeigt. Der über 850 Seiten starke Bericht wurde am Montag in Berlin vorgestellt. Das wissenschaftliche Institut der Krankenkasse AOK analysiert seit 1985 jährlich die Rezepte für gesetzlich Versicherte.

Der Markt für patentgeschützte Fertigarzneimittel verursachte demnach im Vergleich zu 2014 Mehrkosten von 1,3 Milliarden Euro - und wuchs auf insgesamt 14,9 Milliarden Euro. Der Ausgabenanstieg fiel mit fast zehn Prozent mehr als doppelt so hoch aus wie der des Gesamtmarktes, der um 4,3 Prozent wuchs. Preistreiber sind vor allem acht Medikamente, darunter Harvoni (Wirkstoffe Sofosbuvir, Ledipasvir), das erst 2014 zugelassen wurde - allein für das Mittel gegen Hepatitis C gaben die Gesetzlichen Kassen im Vorjahr 691 Millionen Euro aus. Eine Tablette kostet 715 Euro, eine dreimonatige Standardtherapie 60 000 Euro. Ein Preisvergleich der TU Berlin ergab, dass das Präparat in der Bundesrepublik 49 Prozent teurer ist als etwa in Schweden. Dieser Befund trifft auch für die anderen Preisspitzenreiter zu - käme es hier zu Angleichungen nach unten, könnten in dem Marktsegment 1,44 Milliarden Euro gespart werden.

Gespart werden sollte an Medikamenten für gesetzlich Versicherte in Deutschland ohnehin - das war ein wichtiges Ziel des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG), das 2011 in Kraft trat. Bisher wurden die geplanten Einsparungen von zwei Milliarden Euro jedoch noch nicht erreicht, 2015 kam man auf 925 Millionen Euro.

Herausgeber und wissenschaftliche Berater des Reports sehen politisches Versagen als Ursache: Das AMNOG werde immer weiter aufgeweicht, unter anderem durch Sonderregelungen für sogenannte Orphan Drugs - Arzneimittel für sehr seltene Krankheiten. Deren medizinischer Zusatznutzen gilt bereits durch die europäische Zulassung als belegt, die Verschreibung kostete 2013 schon 500 Millionen Euro mehr. Ein Abschlag von 16 Prozent für Patentarzneimittel wurde bis 2013 befristet, danach mussten die gesetzlichen Krankenkassen wieder mehr zahlen, unter dem Strich eine Milliarde Euro pro Jahr. Bereits am Markt befindliche Mittel werden nicht mehr kritisch hinsichtlich ihres Nutzens bewertet - auch hier verfalle ein Sparpotenzial.

Ein neuer Schritt der AMNOG-Aushöhlung wurde mit dem sogenannten Pharmadialog angestrebt. Hier konferierten die Bundesministerien für Gesundheit, Wirtschaft und Forschung mit fünf Pharmaverbänden über die Forderungen der Industrie. Vertreten waren in den anderthalbjährigen Verhandlungen bis April 2016 auch einige Forschungseinrichtungen sowie die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie. Am Ende stand der Referentenentwurf für ein neues Gesetz. Der sei praktisch von den Lobbyisten geschrieben, kritisierte Ulrich Schwabe, Herausgeber des Arzneiverordnungsreports. »Noch nie wurden Industrieforderungen so direkt in einen Gesetzentwurf überführt«, merkt der Arzt und Pharmakologe an. Damit solle offenbar der Hochpreisstandort Deutschland als Referenz für andere europäische Staaten erhalten werden, die Kosten für diese Politik würden über wachsende Zusatzbeiträge auf deutsche Versicherte abgewälzt.

Das geplante Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz soll unter anderem dafür sorgen, dass die Erstattungsbeiträge der Kassen geheim gehalten werden. Im internationalen Preisvergleich würde nur der - höhere - Listenpreis der Hersteller bekannt. Viele der beabsichtigten Vergünstigungen bringen nicht nur höhere Erträge für die Industrie - sie bedeuten zugleich höhere Unsicherheit für Patienten. So spielt die Bewertung des Nutzens von Arzneimitteln eine weniger wichtige Rolle.

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