Griff in die neoliberale Mottenkiste

Beirat des Ministeriums für Wirtschaft stellte Gutachten zur sozialen Sicherung vor

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 2 Min.

Anhebung des Renteneintrittsalters, weitere Absenkung des Rentenniveaus, keine gesetzliche Mindestrente und Ausbau der privaten, kapitalgedeckten Zusatzversorgung. Das sind die Hauptforderungen des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, der am Donnerstag in Berlin sein Gutachten zur »Nachhaltigkeit in der sozialen Sicherung über 2030 hinaus« vorstellte.

Hinsichtlich der zu erwartenden demografischen Verschiebungen zwischen dem erwerbstätigen Teil der Bevölkerung und den Ruheständlern drohe andernfalls das System der gesetzlichen Rentenversicherung unfinanzierbar zu werden, da nach 2030 drastisch steigende Beiträge und/oder Bundeszuschüsse gezahlt werden müssten. Dies würde nicht nur zu unzumutbaren Belastungen für die Wirtschaft führen, sondern auch die Einhaltung der nationalen und EU-weiten Obergrenzen für die Aufnahme von Schulden unmöglich machen, heißt es in dem Gutachten.

Auch bei den Vorschlägen für die »Weiterentwicklung« der Gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungen greifen die Autoren ganz tief in die neoliberale Mottenkiste. Angeregt wird - wie einst vor allem von der FDP gefordert - die Ersetzung der bruttolohnbezogenen Beiträge durch eine einheitliche Kopfpauschale. Ferner soll der für alle Kassen verbindliche Leistungskatalog eingeschränkt werden, um den Wettbewerb anzukurbeln. Das Kriterium der »Kosten-Effektivität« medizinischer Therapien müsse dabei eine zentrale Rolle spielen.

Die Kassen könnten dann durch mehr Vertragsfreiheit sowohl die Kosten senken als auch mit innovativen und passgenauen Versorgungsangeboten um Mitglieder buhlen. Angesichts des demografischen Wandels und des medizinischen Fortschritts sei eine breite gesellschaftliche Debatte über die Grenzen der Finanzierbarkeit der Gesundheitskosten durch kollektive Sicherungssysteme notwendig, »damit sich die Bürger dieser Möglichkeit bewusst sind und gegebenenfalls zusätzliche Ersparnisse bilden können«, heißt es dazu in dem Gutachten.

Bei der Pflegeversicherung wird ebenfalls eine gesundheitspolitische Leiche aus dem Keller geholt. Die Autoren schlagen vor, die bislang freiwillige und kaum wahrgenommene private Zusatzversicherung zu einer »obligatorischen, kapitalgedeckten Zusatzversicherung« auszubauen, mit der Ansprüche auf ein Pflegetagegeld erworben werden könnten.

Den Gutachtern scheint durchaus bewusst zu sein, dass ihnen derzeit der Wind ins Gesicht weht. Mit Sorge nehme man zur Kenntnis, dass die Anstrengungen des vergangenen Jahrzehnts zur »nachhaltigen Sicherung« der Sozialversicherung in den vergangenen Jahren partiell wieder zurückgenommen wurden, heißt es unter Hinweis auf die abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Versicherungsjahren und die »Mütterrente«.

Zudem überböten sich derzeit Politiker ob der bevorstehenden Wahlen mit unfinanzierbaren Versprechen zur Stabilisierung des Renteniveaus. So gesehen trägt dieses Gutachten in dankenswerter Deutlichkeit zur Debatte über die Zukunft der sozialen Sicherung in Deutschland bei.

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